„Visages Villages“, Frankreich, 2017
Regie: Agnès Varda, JR; Musik: Matthieu Chedid
„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen“, schrieb der deutsche Dichter und Journalist Matthias Claudius einmal. In Augenblicke: Gesichter einer Reise gilt das gleich doppelt. Es ist eine ungewöhnliche Konstellation, die sich da zusammengefunden hat: Agnès Varda, die große Filmemacherin und Fotografin, die Grande Dame der Nouvelle Vague, und der Street-Art-Künstler JR. Sie geht stramm auf die 90 zu, braucht einen Stock, um zu gehen, sieht nicht mehr gut. Er ist 33, unbekümmert, springt schon mal auf eine improvisierte Tischtennisplatte oder saust durch eine Kunstausstellung, als wäre er noch ein kleines Kind.
Der Dokumentarfilm lebt dann auch zu einem großen Teil von den Interaktionen dieser beiden, die so unterschiedlich sind und dabei doch eine Vorliebe für das Verspielte eint. Gemeinsam fahren sie durchs Land, lassen sich vom Zufall leiten, treffen Menschen und lassen sich deren Geschichten erzählen. Immer dabei: der Fototruck. Damit lichten sie diese Begegnungen ab bzw. drucken Aufnahmen auf Meter großen Plakaten aus, die sie an Häuser hängen. Oder andere Bauwerke.
Charmant, lebhaft, zufällig
Das hört sich erst einmal nicht übermäßig spektakulär an. Und doch ist Augenblicke: Gesichter einer Reise so schön, so charmant, so voller Leben auch, dass der Film bei seiner Premiere 2017 in Cannes gefeiert wurde. Für eine Oscar-Nominierung als bester Dokumentarfilm reichte das auch. Das Geheimnis von Varda und JR ist es, dass sie ganz alltägliche Geschichten nehmen und daraus etwas Besonderes machen. Dass sie Vertrautes so verwandeln, dass es am Ende komplett neu und aufregend erscheint. Manchmal aber auch einfach nur witzig.
Wenn eine Frau in einem Haus lebt, das nun plötzlich ihr eigenes Gesicht auf der Fassade zeigt, dann ist das ein ebenso kurioser Anblick wie die geschmückten Container. Zusammengesetzt wird daraus das mehrere Stockwerke große Bild dreier Frauen, die als besonderer Gag auch noch selbst mitten im Bild sitzen. Der vielleicht lustigste Einfall war jedoch, Schichtarbeiter einer Fabrik, die sich durch die Zeitpläne nie sehen, als gegenüberliegende, zugewandte Plakate zu drucken – jeder beim Versuch, den anderen zu erreichen.
Humorvoll mit leiser Nachdenklichkeit
Wirklich viel Tiefe ist dabei nicht zu finden. Selbst bei an und für sich prädestinierten Themen – Augenblicke: Gesichter einer Reise nimmt uns mit in Gegenden, die verlassen werden und aussterben, mit zu Menschen, die zu den Verlierern des gesellschaftlichen Wandels zählen – begegnet das Duo seinem Material mit viel Humor. Das ist unterhaltsam, keine Frage, manchmal aber auch etwas schade. So als würden die Leute eben nur als Kunst interessant, anders weder ernst- noch wahrgenommen. Nachdenklich wird der Beitrag vom DOK.fest München 2018 vor allem im persönlichen Bereich, wenn die Grenzen zwischen Objekt und Subjekt verschwinden. Während sich JR nur ungern in die Karten schauen lässt, seine eigenen Augen in einem Running Gag auch kontinuierlich hinter einer Sonnenbrille versteckt, lässt Varda doch vereinzelt hinter die Kulisse blicken.
Das schwindende Augenlicht – eine Höchststrafe für eine Filmemacherin und Fotografin –, Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann Jacques Demy (Die Mädchen von Rochefort) oder auch an die Regielegende Jean-Luc Godard (Außer Atem, Die Verachtung), mit der sie viel Zeit verbracht hat. Augenblicke: Gesichter einer Reise ist daher bei aller Unterhaltung, bei all dem kindlichen Staunen auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit. So flüchtig die Plakate sind, die durch Zeit und Wetter wieder verschwinden werden, so flüchtig sind auch die Begegnungen und letztendlich die beiden hinter und vor der Kamera. Umso mehr lädt der Film dazu ein, die Augen aufzuhalten, so lange es eben geht, die Welt um einen herum aufzunehmen und festzuhalten. Zumindest für einen Augenblick.
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