Fugue

„Fuga“, Polen/Tschechien/Schweden, 2018
Regie: Agnieszka Smoczyńska; Drehbuch: Gabriela Muskała; Musik: Filip Míšek
Darsteller: Gabriela Muskała, Łukasz Simlat

Fugue
„Fugue“ läuft im Rahmen der Semaine der la Critique in Cannes (8. bis 19. Mai 2018)

Erinnerungen hat Kinga (Gabriela Muskała) keine, weder an sich, an ihre Vergangenheit, noch was sie früher getan hat, wer sie ist. Fest steht aber, dass sie einen Polizisten tätlich angegriffen hat. Um der Strafe zu entgehen, lässt sie sich auf einen Deal mit dem Arzt ein, der vorsieht, dass sie in einer Fernsehsendung auftritt, um so nach Angehörigen zu suchen. Tatsächlich ruft daraufhin ein Herr an, der angibt, ihr Vater zu sein. Bald drauf ist Kinga, die eigentlich Alicija heißt, wieder daheim, bei ihrem Mann Krzyszto (Łukasz Simlat) und dem kleinen Sohn Daniel. Doch ihre Erinnerung bleibt verschwunden. Und eigentlich hat sie auch kein großes Interesse daran, bei den zweien zu bleiben – was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht.

Ah ja, da ist sie wieder, die Geschichte eines Menschen, der zu Beginn eines Films keine Erinnerung mehr hat und sie im Laufe der Zeit zurückgewinnen muss. Oft findet das ja im Rahmen eines Thrillers statt, ist der Gedächtnisverlust mit irgendwelchen dunklen Machenschaften verbunden. Allzu besonders wirkt Fugue basierend auf der kurzen Plotbeschreibung dann auch nicht. Und doch ist es der Film. Zum einen handelt es sich hierbei eben nicht um einen Thriller, sondern um ein Drama. Zum anderen haben wir es mit dem zweiten Spielfilm von Agnieszka Smoczyńska zu tun, die vor drei Jahren mit Sirenengesang, eine extravagante Mischung aus Musical und Horror über menschenfressende Meerjungfrauen, eine absolute Kuriosität vorgelegt hat. Und das allein macht neugierig, was die polnische Filmemacherin diesmal auf Lager hat.

Ein Albtraum mit realem Hintergrund
Ganz so wirklichkeitsfremd wie der Erstling ist Fugue nicht. Stattdessen ließen sich Smoczyńska und Gabriela Muskała, die das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle übernahm, von einem wahren Ereignis inspirieren. Wie im Film ging es damals um eine Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat, mithilfe einer Fernsehsendung von ihrer Familie wiedergefunden wurde und nun vor der schwierigen Aufgabe stand: Wie komme ich zurück in ein Leben, an das ich keine Erinnerung habe? Und will ich das überhaupt?

Wobei zumindest aus Sicht des Publikums die Gegenfrage, ob Alicija wieder in die Familie aufgenommen werden sollte, relativ eindeutig verneint würde. Ihr passiv-aggressive Art und Weise, das grundsätzliche Misstrauen anderen gegenüber, die verbalen Ausfälle – das alles hilft nicht unbedingt dabei, die Zuschauer für sich zu gewinnen. Zumal die ersten Begegnungen auch so aussehen, dass sie auf einen Bahnsteig pinkelt und einen Polizisten angreift. Das muss man sich dann doch nicht unbedingt im eigenen Heim antun. Andererseits: Die richtig großen Sympathieträger laufen in Fugue eh nicht herum. Von den Eltern der Gedächtnislosen einmal abgesehen geht jeder auf Distanz, wenn er nicht gerade jemanden wegschubst.

Einzelschicksal mit universellen Fragen
Das hört sich vielleicht nicht allzu einladend an. Und doch lässt einen das sich nur langsam und vorsichtig bewegende Fugue, welches seine Weltpremiere auf der Semaine de la Critique in Cannes 2018 feierte, schon recht bald nicht mehr los. Zum einen kann es Smoczyńska dann doch nicht ganz lassen, das Drama mit Genreanleihen zu durchmischen. Die düsteren Bilder und die unheimliche Atmosphäre könnten tatsächlich aus einem Thriller stammen. Immer wieder verliert man sich in Spekulationen, ob da nicht doch mehr hinter allem steckt. Manchmal nimmt die Stimmung auch traumartige Züge an, kippt ins Surreale, ist nicht mehr weit weg vom Horror entfernt.

Aber der Film bleibt irdisch, braucht keine Monster oder Killer, um seine Spannung zu erzeugen. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass Alicija ihr Gedächtnis verliert, die fesselt einen bis zum Schluss. Ebenso, warum sich alle in dem Haus irgendwie so seltsam verhalten. Gleichzeitig ist Fugue aber eben auch ein Drama darüber, sich in ein Leben einzufügen, das nicht das eigene ist. Eine Rolle anzunehmen, die einem von anderen aufgelegt wurde. Daraus lässt sich eine Menge ableiten, viel Stoff zum Grübeln. Die Erfahrung, nach einem Gedächtnisverlust eine nunmehr fremde Identität annehmen zu müssen, ist natürlich ein Sonderfall. Aber einer, der doch an vielen Stellen erstaunlich Universelles mitzugeben hat, das auch dann noch nachwirkt, wenn die ursprünglichen Fragen längst beantwortet sind.



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In „Fugue“ folgen wir einer Frau, die sich nach dem Gedächtnisverlust wieder in ihre alte Familie einzugliedern versucht. Das ist trotz leichter Genreanleihen wie den surrealen Momenten ein sehr irdisches Drama über Identität und Erwartungen, das zwar ein bisschen langsam ist und keine sehr sympathischen Figuren hat, aber doch fesselt und viele erstaunlich universelle Fragen stellt.
7
von 10