Hereditary

Hereditary – Das Vermächtnis

„Hereditary“, USA, 2018
Regie: Ari Aster; Drehbuch: Ari Aster; Musik: Colin Stetson
DarstellerToni Collette, Gabriel Byrne, Alex Wolff, Milly Shapiro, Ann Dowd

Hereditary
„Hereditary – Das Vermächtnis“ läuft ab 7. Juni 2018 im Kino

Ganz einfach war das Familienleben der Grahams ja nie gewesen. Vor allem das Verhältnis von Annie (Toni Collette) zu ihrer Mutter Ellen war seit der Kindheit gestört. Zuletzt hatte man sich aber zusammengerauft, auch weil Annie sich um ihre kranke Mutter kümmerte. Das ist nun vorbei, mit ihrem Tod beginnt ein neues Kapitel. Vielleicht kann sie ja jetzt mit Steve (Gabriel Byrne) und den Kindern Peter (Alex Wolff) und Charlie (Milly Shapiro) ein normales, glückliches Leben führen. Aber diese Hoffnung zerschlägt sich bald. Charlie verhält sich immer seltsamer, die Familie macht daheim eigenartige Erfahrungen. Und es kommt noch schlimmer. Viel schlimmer.

Horrorfilme haben sich in den letzten Jahren zu einer absoluten Cash Cow entwickelt. Die Kosten sind relativ gering, das Publikum treu, die Profitabilität ergo hoch. Der Nachteil: Der Markt wird geradezu überschwemmt von Titeln, die sich alle derselben Mechanismen bedienen und die man schon vergessen hat, noch bevor wir beim Ende angekommen sind. Aber es gibt sie, diese Ausnahmen. Get Out war letztes Jahr eine solche, weil der Film auf ungewöhnliche Weise Schrecken mit bösem Satire kombinierte. Und auch Hereditary – Das Vermächtnis darf man dazu zählen, weil er zwar lauter bekannte Bestandteile nimmt, daraus aber etwas macht, das man eben nicht wieder vergessen kann – ob man es nun will oder nicht.

Das Spiel mit der Realität
Schon der Einstieg zeigt, dass wir uns hier auf etwas Besonderes freuen dürfen. Mit einer langen Kamerafahrt beginnt der Film, der die Grenzen zwischen der Realität und einer Nachbildung derselben verschwinden lässt. Mit kleinen Modellbauten verdient die Künstlerin Annie ihr Geld, täuschend echt nachgestellte Szenen, die wie ein Puppenhaus wirken. Immer wieder werden wir diese in Hereditary zu sehen bekommen. Für die Handlung spielen sie zwar keine besonders große Rolle, wohl aber für die Atmosphäre. Das Gefühl, dass hier vieles nicht echt ist, einiges absolut verkehrt, ohne dass wir genau wissen warum.

Aber es sind weniger Kameratricks und professionelle Pseudospielzeuge, die Hereditary bei der Weltpremiere auf dem Sundance Filmfestival 2018 zu einer Sensation werden ließen. Ein Mensch ist tot, die Hinterbliebenen haben das Gefühl, dass die Person nicht völlig gegangen ist, das ist im Bereich Horror keine wirklich ungewöhnliche Situation. Ungewöhnlich ist jedoch, was bei Regisseur und Drehbuchautor Ari Aster daraus wird. Wieviel Schmerz und Schrecken er diesem bekannten Szenario entlocken kann. Horror ist der Film natürlich, im herkömmlichen Sinn. Ohne billige Jump Scares, ohne die übliche aufdringliche Musik erzeugt Aster eine Stimmung, in der man sich nie sicher fühlt. Nicht im Haus, nicht weit entfernt davon, nicht am Tag, nicht in der Nacht. Und schon gar nicht bei der eigenen Familie. Morbide Momente, aufflackernder Wahnsinn, Hereditary lässt einen selbst in den ruhigen Szenen nie ganz in Ruhe. Und ist dabei doch subtil, versteckt sich in Schatten und Perspektiven, ohne das Publikum auf Schritt und Tritt darauf aufmerksam machen zu wollen.

Der Film ist aber auch Horror auf einer persönlichen Ebene. Die besten Vertreter des Genres sind immer die, in denen die Protagonisten im Mittelpunkt stehen. Die uns wirklich jemanden aus Fleisch und Blut vorsetzen, an dessen Seite wir leiden, anstatt nur minderbemittelte Teenager in den billigen Tod zu schicken. Und es ist gerade hier, dass Hereditary weit über das hinausgeht, was wir sonst zu sehen bekommen. Aster erzählt die Geschichte eines seltsamen Hauses. Er erzählt aber vor allem die Geschichte einer Familie, die auseinanderbricht, deren persönlichen Tragödien und Abgründe so furchteinflößend sind, einen derart erstarren lassen, dass man die Bedrohung von außen fast vergisst.

Schauspieler jenseits der Genregrenzen
Die Rufe auch jenseits der Horrorfans, der hier völlig entfesselten Toni Collette nach The Sixth Sense eine zweite Oscar-Nominierung zu bescheren, die werden immer lauter. Es sind aber auch die beiden Jungdarsteller, die dazu beitragen, dass das ein absoluter Ausnahmehorrorfilm ist. Alex Wolff hatte sich zuvor schon in dem ähnlich verstörenden My Friend Dahmer empfohlen, bevor er mit Jumanji: Willkommen im Dschungel und Dude erste Mainstreamausflüge wagte. Milly Shapiro war hingegen bislang eher im Musical zu Hause, bevor sie hier eine 180-Grad-Drehung machte und mit ihrer Darstellung der verschlossen-unheimlichen Tochter zu einer der spannendsten Kinderfiguren wurde, die das Genre in den letzten Jahren hervorgebracht hat.

Es ist dann auch das Zusammenspiel dieser Figuren, gepaart mit der düsteren, desolaten Stimmung, das einem hier im Gedächtnis bleibt. Ein bisschen lang ist Hereditary geworden, auch über das bizarre, etwas komische Ende kann man geteilter Meinung sein. Freunde der etwas expliziteren Horrorfilme werden vielleicht auch nicht ganz glücklich sein, wie sehr hier mit Andeutungen gespielt wird, die am Ende zu nichts führen. Aber auch da bleibt sich Aster treu und erzeugt Unbehagen und Schmerz auf seine eigene Weise: Selbst erfahrene Horrorkonsumenten können hier kaum vorhersagen, was als nächstes passiert. Sind den Mechanismen dieser unheimlich zerstörten Familie machtlos ausgesetzt.



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Kaum ein Horrorfilm wurde zuletzt derart überschwänglich gefeiert wie „Hereditary“. Und das auch zurecht: Ari Aster nimmt in seinem Spielfilmdebüt zwar bekannte Elemente von verfluchten Häusern, macht daraus aber etwas ganz eigenes. Der Schrecken entsteht hier durch das Unerwartbare, die Grenzen zwischen Realität und Nachbildung verschwinden auf eigentümliche Weise. Vor allem aber die herausragenden Darsteller tragen dazu bei, dass übersinnlicher und persönlicher Horror hier Hand in Hand gehen, der Film gleichzeitig das Bild einer schmerzerfüllten, auseinanderbrechenden Familie zeichnet.
9
von 10