„The Children Act“, UK, 2017
Regie: Richard Eyre; Drehbuch: Ian McEwan; Vorlage: Ian McEwan; Musik: Stephen Warbeck
Darsteller: Emma Thompson, Stanley Tucci, Fionn Whitehead
Als Richterin ist Fiona Maye (Emma Thompson) es gewohnt, viele knifflige Fälle beurteilen zu müssen und rund um die Uhr zu arbeiten. Doch im Moment ist es sogar für sie etwas viel. Als sie sich mal wieder ein neues Thema verbeißt, erfährt sie von ihrem Mann Jack (Stanley Tucci), dass er plant, eine außereheliche Affäre zu beginnen – schließlich sei sie ja nie da und habe ihre Ehe seit Jahren zugunsten ihrer Arbeit vernachlässigt. Fiona ist geschockt. Doch noch bevor sie sich ihrem in Scherben liegenden Privatleben zuwenden kann, wartet schon der nächste Fall auf sie: Der 17-jährige Adam (Fionn Whitehead) leidet an Leukämie. Eine Bluttransfusion kommt jedoch für ihn und seine Eltern als gläubige Zeugen Jehovas nicht in Frage. Nun liegt es an der Richterin festzulegen, ob sie gegen den Willen des Minderjährigen und seiner Familie die Behandlung anordnen soll.
Einfach macht es einem Ian McEwan (Am Strand) sicher nicht, nicht seinem Publikum, nicht den Protagonisten. Immer wieder zwingt er sie in schwierige Situationen, die mal direkt dem Leben entnommen sind, manchmal bewusst außergewöhnlich, um dabei über ganz grundsätzliche Punkte nachdenken zu können. Ein Beispiel für Letzteres ist Kindeswohl, sein 2014 veröffentlichter Roman, der als Basis für den gleichnamigen Film dient. McEwan befasst sich darin mit der heiklen Frage, ob man einen anderen Menschen zu einer Behandlung zwingen darf – in diesem speziellen Fall ein Jugendlicher, der aufgrund seines Alters nicht die Tragweite der Entscheidung erfassen darf.
Eine schwierige Frage, wenig Austausch
Das ist eine diffizile Aufgabe, die zwei überhaupt nicht miteinander zu vergleichende Rechte gegenüberstellt: das Recht auf Leben und das Recht zur Selbstbestimmung. Kindeswohl macht es einem hier relativ einfach, indem der fragliche Jugendliche ebenso charmant wie intelligent ist. Ein Mensch, dem ein großer Weg offensteht und dem man ein langes Leben wünscht, um seinem so offensichtlichen Potenzial nachzukommen. Ein wirklicher Austausch zwischen den beiden Seiten findet zudem gar nicht statt, er komplexe Argumentationsketten erhofft, der wird nicht sehr reich beschenkt – Wissenschaft gegen religiöse Überzeugung, das muss reichen.
Das ist ein bisschen enttäuschend, da die moralische Komponente doch noch mehr hergegeben hätte. Andererseits ist McEwan, der auch das Drehbuch hier schrieb, ohnehin stärker an den Figuren interessiert als an der Auseinandersetzung. Schon bevor der Fall von Adam bei Fiona auf dem Tisch landet, beschäftigt sich Kindeswohl ausführlich mit dem Privatleben der Richterin. Das dient der Charakterisierung, so wie später der Film auch von dem Konflikt zwischen Individuum und Amt handelt. Davon, dass Fiona ein Mensch ist, dies aber gar nicht zulassen möchte.
Drama ohne Grenzen
Das Ergebnis ist etwas eigenartig, vermischen sich doch auf diese Weise eine Reihe von Themen, die eigentlich gar nicht zusammengehören. Ein Gerichtsfilm, ein Charakterdrama, existenzielle Fragen – es ist so, als hätte McEwan mehrere Bücher schreiben wollen, diese dann aber doch nachträglich zu einem gemacht. Das knirscht manchmal ein wenig, zumal trotz der umfassenden Charakterisierung nicht alles immer nachvollziehbar ist. Gerade bei Fiona drängelt sich doch das eine oder andere Fragezeichen in den Vordergrund, wie jemand gleichzeitig so stark um Menschen bemüht sein kann und dabei offensichtlich so wenig von ihnen mitbekommt.
Zusammengehalten wird der Beitrag vom Filmfest München 2018 dabei von den herausragenden Leistungen der Darsteller. Oscar-Preisträgerin Emma Thompson steht natürlich im Mittelpunkt, wenn sie sich als hochprofessionelle Richterin plötzlich mit einer wenig fassbaren Gefühlsseite auseinandersetzen muss. Aber auch Fionn Whitehead, der in Dunkirk sein Spielfilmdebüt gab, überzeugt auf ganzer Linie als junger Mensch, dessen gesamte Welt und Lebensphilosophie auseinanderbricht. Der trockenen Überlegungen zum Trotz bietet Kindeswohl daher durchaus etwas fürs Herz. Es ist sogar mitreißend, wie hier Glück und Unglück nah beieinander liegen, sich Hoffnung und Tragik abwechseln, man als Zuschauer hilflos mitansieht, wie McEwan seine Figuren und das Publikum durch die Mangel nimmt, viele Fragen aufwirft und einen damit alleine lässt.
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