„Atelier de Conversation“, Frankreich/Liechtenstein/Österreich, 2017
Regie: Bernhard Braunstein; Musik: Lucile Chaufour
Was haben eine japanische Bäckerin, ein englischer Dozent und ein türkischer Richter im Ruhestand gemeinsam? Erst einmal nicht viel. Und doch gibt es etwas, das die drei eint. Das auch die vielen anderen Menschen eint, die in Sprechstunde zu sehen sind: Sie sind Fremde in Paris, suchen Anschluss, suchen eine Möglichkeit, ihre Französischkenntnisse zu verbessern. Dazu hat hier prinzipiell jeder die Möglichkeit, in der Bibliothèque publique d’information des Centre Pompidous. Jeden Freitag um 18 Uhr trifft sich eine Konversationsgruppe, die allen offensteht, unentgeltlich, ohne Zwang und Vorgaben.
Der Regisseur Bernhard Braunstein kennt diese Gruppe, kennt auch nur zu gut die Gründe, warum man sich ihr anschließen wollte. Er selbst war in die französische Metropole gekommen, ohne jegliche Sprachkenntnisse vorweisen zu können. Hoffte darauf, dass er diese nach ein paar Monaten quasi automatisch aneignen würde. Dem war natürlich nicht so, auch nach einer guten Weile fühlte sich der gebürtige Österreicher in Land und Sprache verloren. Um dies zu ändern, verschlug es ihn erst in besagte Bibliothek, von dort aus in den Kurs, von dem er rein zufällig erfuhr.
Und noch ein Kopf …
Sprechstunde besteht dann auch zu einem überwiegenden Teil aus Konversationen, die er dort aufgenommen hat. Das hört sich vielleicht nicht aufregend an. Was soll Spannendes daran sein, irgendwelchen Leuten zuzuhören, die sich einen abmühen, in einer Fremdsprache einen geraden Satz herauszubringen? Optisch ist der Dokumentarfilm tatsächlich langweilig. Wem schon reguläre Dokus zu viele Aufnahmen der berüchtigten talking heads enthalten, der braucht das hier erst gar nicht zu versuchen. Dann und wann sehen wir auch mal ein Bild aus der Bibliothek oder von dem Paris da draußen. Aber das bleibt die Ausnahme, überwiegend gibt es tatsächlich lediglich Köpfe, die etwas sagen.
Es ist jedoch der Inhalt dieses Gesagten, der den Film so spannend und lohnenswert macht. Neben den drei besagten Teilnehmern oben kommen noch zahlreich weitere Menschen zu Wort, aus allen Ecken und Enden der Welt. Südamerika ist stark vertreten, Asien, Afrika, mehrere Dutzend Personen und Nationalitäten werden in dem Abspann genannt. Sich diese alle zu merken, ist natürlich vergeblich. Anfangs gibt es zwar eine kleine Vorstellungsrunde mit ein paar dieser Leute. Aber die ist nur kurz, Braunstein ist kein Mann der großen Kontexte. Er sagt nichts zu der Runde, zu deren Hintergründen. Er verlässt sich darauf, dass die Gespräche für sich genug Aussagekraft haben.
Neugierde aus Vielfalt
Das haben sie auch, zumindest nach einer Weile. Was zu Beginn noch wie ein banales Sprachpraxisseminar aussieht, wird mit der Zeit immer abwechslungsreicher und auch tiefgründiger. Gerade weil sich die Teilnehmer so bunt und verschieden zusammensetzen, aus den unterschiedlichsten Berufen auch, kommen hier die unterschiedlichsten Überzeugungen und Kulturen in Berührung. Wenn sich die Leute miteinander unterhalten, dann oft auch aus Neugierde und dem Wunsch nach Austausch. Nach Verständnis. Wie funktioniert eure Welt? Was macht sie aus? Warum verhaltet ihr euch so anders, so seltsam?
Die Bandbreite an Themen ist groß. Der Dokumentarfilm, der unter anderem auf dem DOK.fest München zu sehen war, behandelt das Persönliche ebenso wie das Universelle. Da kann auf einen Exkurs zu Liebe auch schon mal ein Streitgespräch zu Politik folgen, unterschiedliche Ansichten zur Wirtschaft werden durch eine Frau kontrastiert, die in Tränen ausbricht, weil sie ihre Familie so vermisst. Solche tiefen Einblicke laufen immer Gefahr, etwas unangenehm voyeuristisch zu werden. Sprechstunde schlachtet diese Momente aber nicht aus, sondern stellt sie gleichberechtigt neben die anderen. Der Film ist dadurch nicht nur ein Querschnitt durch die Einwanderergesellschaft von Paris, sondern auch des Lebens an sich, der viele Aspekte – wenn auch nur kurz – anbringt, die das Menschsein ausmachen.
(Anzeige)