„Tigre“, Argentinien, 2017
Regie: Ulises Porra Guardiola, Silvina Schnicer; Drehbuch: Silvina Schnicer; Musik: Cruclax Santiago Palenque
Darsteller: Marilú Marini, María Ucedo, Agustín Rittano, Lorena Vega, Melina Toscano
Wenn jemand in dem Haus wohnt, kann es auch nicht abgerissen werden – davon ist Rina (Marilú Marini) überzeugt. Also macht sie sich auf den Weg, zusammen mit ihrem Sohn Facundo (Agustín Rittano), ihrer Freundin Elena (María Ucedo) und einigen Jugendlichen. Das Ziel: Jenes Haus im argentinischen Dschungel, in dem sie früher einst wohnten, in denen sie aufwuchsen, bevor sie fortgingen, das nun aber Bauarbeiten zum Opfer fallen soll. Das Zusammenleben stellt sich jedoch als deutlich schwieriger heraus als zuvor gedacht. Immer wieder kommt es zu Konflikten, alten wie neuen. Und auch da draußen, in den dunklen, undurchsichtigen Wäldern, scheint etwas vor sich zu gehen.
Auch wenn der Titel vielleicht solche Erwartungen weckt, ein Tiger ist hier weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen bezieht sich Tigre auf die gleichnamige Stadt in Argentinien und die dortige Gegend, in der einst Jaguare irrtümlich für Tiger gehalten wurden. Beliebt ist der Ort gerade auch als Startpunkt für einen Ausflug ins Tigre-Delta, ein Marschland durchsetzt mit Flussarmen, mit vielen kleinen von der Natur überwucherten Inseln. Und eben dieses Delta ist Schauplatz einer etwas anderen Familiengeschichte.
Düstere Ausflüge in die Vergangenheit
Dschungel sind als Schauplatz für Filme natürlich immer dankbar, sei es für Abenteuer (Der Schamane und die Schlange) oder Actionfilme. Auch Horrorstreifen könnte man sich hier sehr gut vorstellen. Manchmal erinnert der Debütfilm des Regieduos Ulises Porra Guardiola und Silvina Schnicer auch an einen solchen. Untermalt von atmosphärischer, gleichzeitig unheimlicher Musik hat Tigre immer etwas Finsteres an sich. Die Geister der Vergangenheit streifen umher, lauern in den verworrenen Wäldern, lauern in dem langsamen steigenden Wasser, welche das Land überflutet. In den Schatten da draußen, in den Schatten da drinnen, die schon lange nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Rina und Facundo sind gekommen, um das Haus zu bewahren, die Erinnerungen. Und sind doch auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit.
Horror ist Tigre dann auch nur im zwischenmenschlichen Bereich. In bester Tradition düsterer Familiendramen, etwa aus Skandinavien, sorgt das gleichzeitig weitläufige und doch klaustrophobische Setting für jede Menge Spannung. Wer nicht weiter davonlaufen kann, geht zum Angriff über. Die heimelige Stimmung in dem idyllisch gelegenen Häuschen überdeckt nur anfangs, wie viel im Argen liegt, wie viel unterdrückt wurde. Das Alte bricht hervor, das Neue nimmt den Kampf an, irgendwo dazwischen liegt das sexuelle Erwachen der Jungen, eine Kraft, die noch kein Ziel kennt.
Das Wilde im Menschen
Wenn die Jugendlichen durch den Regenwald streifen, dann erinnert das an Der Herr der Fliegen, wo auf sich allein gestellte Kinder ihren grausamen Neigungen nachgingen. Wirklich explizit wird Tigre jedoch nie, bleibt verspielter, weniger konkret, kaum fassbar. Ein Traum, der sich durch die Natur schlängelt, von ihr Besitz ergreift. Oder ist es umgekehrt? Nicht nur der Dschungel an sich ist wild und ungezähmt, auch die Menschen, die darin umherwandern und verlorengehen, scheinen manchmal besessen, von seltsamen Krankheiten befallen zu sein.
Atmosphärisch ist das sehr stark, was Guardiola und Schnicer hier zusammengebraut haben. Aufnahmen, die direkt der Natur entnommen sind, gleichzeitig aber auch traumartige, manchmal surreale Anmutungen haben. Dem Beitrag vom Filmfest München 2018 gelingt es auf souveräne und reizvolle Weise, diese unwirklichen Elemente mit sehr irdischen Momenten und Problem zu verschmelzen. Der eine oder andere wird hier womöglich eine fortlaufende Handlung vermissen oder angesichts so mancher Szene reichlich verwirrt sein, die eher der Beschreibung als der Geschichte dient. Wer es aber schafft, sich auf diese etwas andere Reise einzulassen, der wird mit einem sehr sehenswerten und intensiven Drama belohnt, das von dem Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart erzählt. Davon sich zu lösen und zu finden, umgeben von Tigern, die keine sind, sumpfigen Abgründen, die sich erst allmählich als solche herausstellen.
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