Kiss Me First
© Netflix

Kiss Me First

„Kiss Me First“, UK, 2018
Regie: Misha Manson-Smith, Tom Green; Drehbuch: Bryan Elsley, Rachel Hirons, Laura Deeley, Jamie Brittain, Lauren Sequeira
Vorlage: Lottie Moggach; Musik: Matthew Simpson
Darsteller: Tallulah Haddon, Simona Brown, Matthew Beard, Matthew Aubrey

Kiss Me First
„Kiss Me First“ ist seit 29. Juni 2018 auf Netflix erhältlich

Das Leben meint es gerade nicht besonders gut mit Leila (Tallulah Haddon). Gerade einmal 17 ist sie, als ihre Mutter stirbt. Andere Verwandte hat sie nicht, keine Freunde, muss es irgendwie alleine schaffen, alle Rechnungen zu bezahlen. Nur ein Lichtblick ist ihr geblieben: Azana. In der virtuellen Online-Welt kann sie sein, wer sie möchte, den grauen Alltag daheim vergessen. All das ändert sich, als sie bei einem ihrer Ausflüge die von Adrian (Matthew Beard) geleitete Gruppe Red Pill begegnet. Die ist nicht nur anders als die übrigen Spieler, kommt nicht nach Azana, um Monster zu bekämpfen oder Abenteuer zu erleben, sondern lediglich um Zeit miteinander zu verbringen und zu reden. Eine der Spielerinnen, Tess (Simona Brown), folgt ihr auch in die reale Welt und möchte Freundschaft mit ihr schließen – bevor sie plötzlich verschwindet.

Der Zeitpunkt ist recht günstig: Knapp drei Monate waren vergangen, seitdem Ready Player One in die Kinos kam und dabei ganz ordentlich Kasse machte. Genauer war Steven Spielbergs Film über einen Jugendlichen, der in einer virtuellen Realität große Abenteuer erlebt, sogar der erfolgreichste Film des Altmeisters seit Langem. Die Erinnerung an die Buchverfilmung ist daher noch recht frisch, kaum ein Artikel oder Besprechung von Kiss Me First, der nicht auf den Blockbuster verweist. Und doch hinkt der Vergleich, an vielen Stellen sogar.

Die Sehnsucht nach einem anderen Leben
Schon Titelfigur Leila ist kaum mit ihrem männlichen Pendant aus Hollywood zu vergleichen. Wo Wade noch Abenteuer suchte, große Schätze und Nervenkitzel, da geht es hier erst einmal nur darum, sich abzulenken. Sich zu betäuben. Was verständlich ist: Während die Welt von Azana lichtdurchflutet ist, ein wunderbares kleines Idyll, da ist das reale Leben da draußen in grauen, kalten Bildern eingefangen. Leben, das bedeutet hier Schmerz. Es bedeutet Einsamkeit. Und das nicht nur für Leila, auch ihre neuen virtuellen Bekanntschaften haben allen Grund dazu, raus zu wollen, weg zu wollen, ein anderes Leben zu wollen.

Am stärksten ist Kiss Me First dann auch in der ersten Hälfte, wenn sich die Netflix-Coproduktion auf diese dramatischeren Elemente konzentriert. Tallulah Haddon, die zuvor kleinere Rollen in den Serien The Living and the Dead und Taboo hatte, überzeugt hier als zurückhaltende, verunsicherte Teenagerin, irgendwo zwischen Traurigkeit und Apathie, die nach Anschluss sucht. Die Adaption von Lottie Moggachs gleichnamigen Roman zeigt eine zwar zukünftige, aber doch plausible Welt, in der die Menschheit vernetzt und gleichzeitig isoliert ist. In der die heutige Tendenz, dass soziale Netzwerke soziale Interaktion ersetzen, noch etwas weitergetrieben wurde.

Nervenkitzel mit holprigen Wendungen
Offensichtlich wollte man aber mehr als nur ein Drama, das von einer sich auflösenden Gesellschaft und damit verbundenen Fluchtmechanismen redet. Ein bisschen mehr Action. Das nimmt nie die Ausmaße von Ready Player One an, das am Ende vor allem gut gelauntes Spektakel sein wollte. Stattdessen bewegt sich Kiss Me First stärker in einer Mystery-/Thrillerrichtung. Das Verschwinden von Tess setzt den Startschuss, um die Geschichte über jugendliche Aussteiger noch düsterer zu machen. Gefährlicher. Es geht nicht nur darum, ein alternatives Leben zu finden, sondern um Leben und Tod.

Das ist anfangs noch spannend, so lange die Serie nur mit Andeutungen und einer geheimnisvollen Atmosphäre spielt. Später überschlagen sich die Ereignisse jedoch etwas zu sehr, Kiss Me First versucht allem noch eins draufzusetzen, ohne eine richtige Richtung beizubehalten. Leilas Entwicklung erfolgt sehr sprunghaft, Wendungen und Figuren lassen einen bei ihrem Wettlauf zum Finale irritiert zurück. Es ist noch nicht einmal so, dass die Auflösung übermäßig befriedigend wäre, womöglich wollte man sich hier doch einfach zu sehr die Option auf eine zweite Staffel offenhalten. Insgesamt wäre eine solche aber durchaus eine gute Nachricht, sofern diese sich stärker an den Charakteren orientiert, anstatt Nervenkitzel erzwingen zu wollen. Denn trotz der Rückschritte in der zweiten Hälfte ist die Vermischung von Virtualität und Realität ein interessanter Neuzugang in der aktuellen Serienlandschaft, der vor gefährlichen Entwicklungen warnt, ohne dabei zu sehr mit dem moralischen Zeigefinger zu wedeln.



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Nach dem Tod ihrer Mutter verliert sich eine 17-Jährige in einer Online-Welt, um dort Alltag zu vergessen und Anschluss zu finden. Das ist vor allem in der ersten Hälfte sehr eindrucksvoll, wenn sich „Kiss Me First“ stärker auf die Figuren und ihre Lebenssituation konzentriert. Die Mystery-/Thrillerelemente können da trotz anfänglicher Spannung nicht recht mithalten.
7
von 10