„Los Versos del Olvido“, Frankreich/Deutschland/Niederlande/Chile, 2017
Regie: Alireza Khatami; Drehbuch: Alireza Khatami
Darsteller: Juan Margallo, Tomas del Estal, Manuel Moron, Itziar Aizpuru
Für den Wärter des Leichenschauhauses (Juan Margallo) ist der Tod das Leben. Und seine Berufung. Jeden Tag geht er zur Arbeit, selbst am Sonntag, obwohl er eigentlich nicht dürfte. Er kümmert sich um die Menschen dort, lebendige wie tote, schaut auch sonst nach dem Rechten. Eines hätte er aber besser nicht gesehen: die Leiche einer jungen Frau, die dort eigentlich nichts zu suchen hat. Getötet wurde sie bei Protesten, welche die Miliz gewaltsam niedergeschlagen hat, ausgerechnet das Leichenschauhaus soll die Unbekannte verstecken. Für den alten Mann bedeutet das jedoch einen Angriff auf sein Berufsethos! Und so versucht er alles in seiner Macht, um der toten Fremden ein würdiges Begräbnis zu organisieren – entgegen aller Widerstände durch die Behörden.
Mehrere Kurzfilme hatte Alireza Khatami bereits gedreht, bevor es dann auch für den iranischen Regisseur und Drehbuchautor an der Zeit war, sich an einem ausgewachsenen Spielfilm zu versuchen. Gewissermaßen. In vielerlei Hinsicht ist Los Versos del Olvido – Im Labyrinth der Erinnerung weniger Spielfilm als eine Anthologie, ein Zusammenschnitt von Kurzfilmen mit ähnlichen Themen und einem gemeinsamen Protagonisten. Eine wirklich durchgängige Geschichte erzählt der Filmemacher hingegen nicht. Stattdessen führt die Odyssee des alten Mannes immer wieder zu neuen Orten, Personen und Schicksalen, gewährt uns Momentaufnahmen, die keine Aufklärung finden.
Auf der Suche nach Namen und Geschichten
Allgemein hält sich Khatami sehr zurück, wenn es darum geht, dem Publikum etwas Konkretes an die Hand zu geben. Das beginnt schon damit, dass der Protagonist keinen Namen erhält, so wie alle Figuren in Los Versos del Olvido anonym bleiben. Die Hauptfigur hat ein hervorragendes Gedächtnis, kann sich Zahlen auch Jahre später noch merken. Nur wie die Menschen heißen, das weiß er nicht. Vieles hier wissen wir nicht. Wir wissen nicht, wo der Film spielt, wann er spielt, worum es bei den Protesten ging, die offensichtlich einer Reihe von Demonstranten das Leben gekostet hat. Einige dieser Leerstellen sind einfacher zu füllen, andere bleiben ein offenes Rätsel – die Geschichte des alten Wärters ist wenig greifbar.
Das liegt aber auch daran, dass Khatami die Suche immer wieder mit wundersamen Ereignissen verknüpft. In der Welt von Los Versos del Olvido dürfen Wale schon einmal durch die Luft fliegen, in der Wüste finden sich gigantische seltsame Gebilde und auch das Wetter hält sich nicht an die einfachsten Regeln – Quentin Dupieux lässt grüßen. Anders als bei dem Franzosen sind diese Einfälle zwar kurios, teilweise komisch, aber doch auch immer mit einer melancholischen Nachdenklichkeit verbunden. Der Film will sicherlich unterhalten. Aber er will eben mehr als das.
Besonders und doch auch universell
Es sind eigene Erfahrungen, die der Filmemacher hier aufarbeitet: „Die Spurlosen“ wurden all die Soldaten genannt, die in den Wirren des Iran-Irak-Kriegs verschwunden sind. Beispiele für vermisste Leichen und die Erinnerungen an sie fand Khamati aber an allen Ecken und Enden der Welt, bis hin zu den Tragödien, die sich tagtäglich bei der Flucht über das Meer ergeben. Wohl auch deshalb vermied er es bei Los Versos del Olvido sich zu sehr auf eine konkrete Situation festzulegen. Das Drama spielt nicht in seinem heimischen Iran, es spielt nicht in Chile, wo es gedreht wurde. Es spielt überall und nirgends, erzählt vom Erinnern und Vergessen, von Menschen und dem, was von ihnen übrigbleibt.
Los Versos del Olvido, das bei den Filmfestspielen von Venedig 2017 Premiere feierte und dort diverse Preise gewann, ist dann auch ein sehr seltsamer Film. Einer, der viel auf Distanz bleibt und die Zuschauer kaum an sich heranlässt, sei es durch Sprachlosigkeit oder Surrealismus. Einer, in dem man sich gleichzeitig aber auch leicht wiederfindet. Die Trauer um verlorene Menschen, der Kampf um das Andenken und die Würde der Verstorbenen – das Drama ähnelt nicht nur thematisch Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit, ersetzt das Skurrile jedoch durch Magie. Verzaubert ist man im Anschluss auch, selbst wenn man nicht immer genau sagen kann wovon. Gerührt von dem Plädoyer für eine Erinnerungskultur und den offenen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, selbst wenn diese in einem abgelegenen und schäbigen Leichenschauhaus endet, das es offiziell nicht geben darf.
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