Asche ist reines Weiß

Skrupel? Die kenn Qiao (Tao Zhao) nicht. Ebenso wenig Angst. Sonst würde sie es wohl auch nicht aushalten an der Seite ihres Freundes Bin (Fan Liao), der als lokaler Gangsterboss das Sagen in Datong hat. Nicht jedem gefällt die Art und Weise, wie er über andere bestimmt. Aber er weiß schon, wie er die Leute gefügig macht. Als er eines Abends von einer Gruppe Jugendlicher überfallen wird, stößt jedoch auch er an seine Grenzen. Nur durch das beherzte Eingreifen von Qiao, die mit einem Warnschuss die Angreifer in die Flucht schlägt, kann Schlimmeres verhindert werden. Die Kehrseite der Medaille: Sie muss anschließend wegen unerlaubten Waffenbesitzes ins Gefängnis. Als sie wieder herauskommt, ist sie bereit, ihr altes Leben wiederaufzunehmen. Doch sie muss schon bald erkennen, dass die Welt da draußen nicht unbedingt auf sie gewartet hat – ebenso wenig Bin, der längst über sie hinweg ist.

Das chinesische Kino und Deutschland, das ist zuletzt eine nur wenig fruchtbare Kombination gewesen. Nachdem die früheren Exportschlager aus dem Reich der Mitte – historische Martial-Arts-Epen und krachende Hongkong-Action – kein großes Publikum mehr finden, ist der Nachschub zum Ersiegen gekommen. Zaghafte Versuche, das dortige Blockbuster-Treiben hierzulande zu etablieren, etwa mit Wolf Warrior 2 und Never Say Die, sind gescheitert. Und auch im Arthouse-Bereich wird der fernöstliche Riese gerne ignoriert, hoch gelobte Werke wie I Am Not Madame Bovary sind bis heute ohne deutschen Verleih geblieben.

Liebe und Land im Wandel

Immerhin, jetzt kündigt sich wieder ein Hochkaräter an: Zhangke Jia. Das vorherige Werk des Cannes-Dauergastes ist uns leider vorenthalten geblieben. Manch einer wird ihn aber vielleicht für das gewaltige Sozialdrama A Touch of Sin an ihn erinnern. Und auch mit Tao Zhao gibt es ein Wiedersehen, der Ehefrau des Regisseurs. Dieses Mal verkörpert sie eine ungleich stärkere Frau als damals. Sehr viel glücklicher ist die neue Figur aber auch nicht, denn mal wieder gibt es Ärger mit einem untreuen Mann. Asche ist reines Weiß ist dann auch, zum Teil zumindest, die Geschichte einer Frau, die für ihren Mann bereit ist alles zu tun.

Der Film ist aber noch viel mehr als das. Zweieinhalb Stunden dauert das Schwergewicht, das wie erwartet in Cannes debütierte und anschließend beim Filmfest München 2018 Deutschlandpremiere feierte. Zweieinhalb Stunden, die von einer Liebesgeschichte erzählen. Die von zwei Menschen erzählen, wie sie sich im Laufe der Zeit geändert haben. Die vor allem aber auch von einem Land erzählen, das einem Wandel unterworfen ist. Strukturen ändern sich, Gesellschaft und Hierarchien. Große Hoffnungen verschwinden im Nichts, während unerfüllte Baustellen von unerfüllten Träumen zeugen.

Ein Film ohne Grenzen

Kaum ein Land hat sich in den letzten zwei Jahren wohl derart stark gewandelt wie China, gesellschaftlich wie ökonomisch. Dass immer mehr Filme diese Veränderungen aufgreifen, sei es der düstere Thriller The Looming Storm oder das wehmütige Coming-of-Age-Drama The Summer Is Gone, verwundert daher nicht weiter. Jia tut das ebenfalls, verwischt dabei aber auf eindrückliche Weise die Genregrenzen. Was als Milieu-Krimi beginnt wird zu einer Romanze, später zu einem bedrückenden Drama. Aber auch humorvolle Momente finden sich in dem ambitionierten Gemälde: Wenn Qiao in einer umwerfenden Dreistigkeit nach Einnahmequellen Ausschau hält, erinnert das an die diebischen Elstern aus Ocean’s 8.

Nur dass das hier doch viel wehmütiger ist. Von einer Sehnsucht gezeichnet, die umso größer ist, je leerer und sinnloser alles erscheint. Wohin das Ganze soll, wird dabei nicht immer klar, als Zuschauer darf man sich schon des Öfteren fragen, was denn nun die eigentliche Geschichte von Asche ist reines Weiß ist. Dafür überzeugen die Bilder auf ganzer Linie: Ob der Franzose Eric Gautier (On The Road – Unterwegs, Die wilde Zeit) gerade große Landschaftsgemälde auf die Leinwand zaubert oder sich in den intimeren Momenten den Figuren zuwendet, zu sehen gibt es hier jede Menge. Und auch die beiden Hauptdarsteller brillieren von Anfang bis zum Ende, sei es in ihren starken, selbstbewussten Szenen oder jenen, in denen sie selbst zu einem Häufchen Asche zu werden drohen.