Soll ich jetzt den einen Euro geben oder nicht? Nehme ich die Person wahr, die da auf dem Bürgersteig liegt, oder tue ich so, als hätte ich sie nicht gesehen? Will sie überhaupt wahrgenommen werden? Die einen haben sich an den Anblick gewöhnt, wenn Obdachlose in Fußgängerzonen umherlaufen, in Parks oder unter Brücken hausen. Andere stören sich daran, sind sich vielleicht unschlüssig darüber, wie sie mit solchen Menschen umgehen sollen. Doch gleich ob man nun das eigene Gewissen mit einer kleinen Spende beruhigt oder darin keinen Nutzen sieht: Ist man erst einmal an den Pennern und Bettlern vorbei, sind sie wieder aus dem Bewusstsein verschwunden. Abgehakt. Unsichtbar.
Tama Tobias-Macht und Johanna Sunder-Plassmann haben genauer hingesehen, wollen die Leute sichtbar machen, die wir oft nicht sehen wollen, ihnen eine Geschichte und ihre Persönlichkeit zurückgeben, die sich unter dem Dreck, den abgetragenen Klamotten und hinter den riesigen Plastiktüten versteckt. Vier Beispiele haben sich die zwei dafür ausgesucht: Matze, Elvis, Peter und Sergio heißen sie, leben irgendwo da draußen. Draußen ganz wörtlich, wenn sie unter dem freien Himmel oder dem Lärm einer Straßenbrücke schlafen. Draußen im übertragenen Sinn, wenn sie schon lange kein Teil der Gesellschaft mehr sind.
Viele Wege führen nach draußen
Die Gründe dafür sind unterschiedlichster Natur. Mal haben sie Mist gebaut, mal hatten sie einfach Pech. Oder sie haben es einfach nicht mehr ausgehalten. Mit 37 noch bei den Eltern zu leben, erzählt der eine, das wäre ihm zu peinlich gewesen. Also lebte er lieber gleich auf der Straße, wo er sich niemandem gegenüber rechtfertigen muss. An manchen Stellen neigt draußen, das auf der Berlinale 2018 Premiere feierte, auch dazu, dieses freie Leben etwas zu romantisieren. Fast schon idyllisch ist es, wie es sich die vier da zurechtmachen, eine eigene kleine Wohnung, nur eben ohne die Wände.
Gegenstände spielen dabei eine erstaunlich große Rolle. Tobias-Macht und Sunder-Plassmann haben es sich nicht einfach am Lagerfeuer gemütlich gemacht, sondern nutzen das wenige Hab und Gut, das ihren Gesprächspartnern geblieben ist, um so mit ihnen eine kleine Reise in die Vergangenheit zu machen. Die vier erzählen, was es mit den Objekten auf sich hat, welche Bedeutung diese für sie haben. Nach und nach lernen wir auf diese Weise die Menschen dahinter kennen, erfahren, auf welchen Wegen sie hinaus fanden, raus aus allem.
Zwischen Abgrund und Presley
Die Geschichten, die wir dabei hören, sind oft natürlich traurig, erzählen von Einsamkeit, Vernachlässigung, Misshandlung. Und doch ist draußen kein Film, der sich in dem Elend seiner Protagonisten badet. Auch deshalb nicht, weil sie es selbst nicht tun. Sie haben sich mit ihrem Leben gut arrangiert, sind zu Überlebenskünstlern geworden, die vielleicht nicht zum Vorbild reichen, aber zumindest nachdenklich stimmen als Gegenentwurf zu der Überflussgesellschaft. Wer erfährt, wie jemand mit nur vier gefundenen Pfandflaschen am Tag über die Runden kommen kann, der stellt doch einiges in Frage.
Gleichzeitig hat der Dokumentarfilm einen gewissen Unterhaltungswert. Das große Faible des einen für die Musik von Elvis Presley entlockt einem ebenso ein Schmunzeln wie sein Bemühen, seinen Schlafplatz hübsch herzurichten – Tischdecke und Blümchen inklusive. Doch das Kuriose geht eben mit dem Kritischen einher. Vorurteile gegenüber Obdachlosen werden ebenso angesprochen wie bürokratische Zumutungen. Das Leben auf der Straße ist dann eben doch kein reines Fest der Freiheit, wohl aber ein sehenswerter Anblick, und sei es nur für die 80 Minuten, die der Film vom Publikum einfordert.
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