Wenn man wie Netflix jedes Jahr Hunderte von Serien, Filmen und Dokumentationen auf den Markt wirft, ergibt es sich fast zwangsweise, dass vieles darunter reine Wegwerfware ist. Praktisch jede Woche findet sich irgendein Neuzugang, der so belanglos und formelhaft ist, dass man den Titel schon vergessen hat, bevor die Credits auftauchen. Dann und wann ist aber auch etwas dabei, das – ob nun bewusst oder unbewusst – für jede Menge Kontroversen sorgt. Neuestes Beispiel hierfür ist die Comedyserie Insatiable, die schon vorab Kritik für ihre mutmaßliche Fettfeindlichkeit einstecken musste. Etwas weniger im Rampenlicht ist aktuell Erkrankt, dabei sind hier die Reaktionen des Publikums noch einmal deutlich heftiger. Und widersprüchlicher.
Eindeutig an der Serie ist eines: Die sieben Protagonisten, die hier zu Wort kommen, leiden. Eine behauptet, WiFi-Signale nicht vertragen zu können, eine andere reagiert heftig auf Schimmel, ein dritter klagt über das chronische Erschöpfungssyndrom. War er vor zwei Jahren noch ein gesunder junger Mann, ist er inzwischen bettlägerig, kann nichts mehr tun, ist zu keinem Handgriff mehr in der Lage, ohne dabei große Schmerzen zu haben. Erkrankt folgt diesen sieben Menschen über sieben Folgen hinweg. Anders als vergleichbare Porträtserien – zuletzt I Am a Killer –, sind die Episoden aber nicht einzelnen Protagonisten gewidmet. Stattdessen wird ständig zwischen den einzelnen Fällen hin und her gewechselt, während wir sie nach und nach besser kennenlernen.
Ein Bild zum Selberbauen
Das ist formal interessant, auch wenn es die Serie erst einmal etwas weniger zugänglich macht, Erkrankt besteht aus lauter Schnipseln, die man selbst erst zusammensetzen muss. Eine zweite Besonderheit ist, dass die Dokumentation sich komplett aus dem Inhalt ausklinkt. Sie lässt die Betroffenen zu Wort kommen, Angehörige, behandelnde Ärzte, aber auch andere Menschen, die mit reichlich seltsamen Mitteln den Leidenden helfen wollen. Gegen jede Menge Geld versteht sich.
Erkrankt ist daher weniger eine Serie, die sich wissenschaftlich mit den Krankheitsbildern auseinandersetzt, sondern eher mit den Menschen, die diese aufweisen. Wie gehen sie damit um? Welche Auswirkungen hat dies auf ihren Alltag? Was bedeutet das für ihr Umfeld? So weit, so gut. Andere Netflix-Dokus aus dem Bereich Krankheit sind ebenfalls in erster Linie an den persönlichen Geschichten interessiert, etwa Endspiel und Extremis, die sich mit dem Tod auseinandersetzen, oder auch The Bleeding Edge – Das Geschäft mit der Gesundheit über skandalöse medizinische Fehlgriffe.
Krank oder verrückt, das ist hier die Frage
Schwierig ist etwas anderes: Sind diese Erkrankungen real oder nicht? Handelt es sich um reine Einbildungen? Oder wurden diese Krankheiten bislang einfach nicht genügend erforscht, weil auch zu wenige Fälle vorliegen? Wer selbst an vergleichbaren Symptomen leidet, wird auf diese Fragen natürlich anders reagieren als jemand, der alles Nichterklärbare als unwissenschaftlich ins Lächerliche zieht. Letzteres ist hier besonders einfach, da sich die Macher der Serie einige recht exzentrische Persönlichkeiten ausgesucht haben. Wenn beispielsweise Carmen, die besagte Elektrosensibilität für sich in Anspruch nimmt, auffällige Verhaltensweisen an den Tag legt und Leute anblafft, dann mag das Unterhaltungswert haben. Es trägt jedoch wenig dazu bei, ihr Leiden ernstzunehmen.
Und hieran scheiden sich eben die Geister. Während Betroffene vergleichbar zu Take Your Pills sich verunglimpft fühlen, beklagen andere, dass die sieben überhaupt eine Bühne bekommen, um ihr Leiden präsentieren zu dürfen. Gehasst wird die Serie von beiden Seiten. Verständlich, gleichzeitig ein wenig schade. Auch wenn Erkrankt sich tendenziell doch eher auf die Seite der Skeptiker schlägt – manches hier wirkt einfach zu bescheuert – und keine echte Diskussion entsteht, so funktioniert die Doku zumindest als Plädoyer dafür, anderen zuzuhören. So kurios manche der Figuren, vor allem deren „Behandlungsmethoden“ auch sein mögen, so sind ihre Geschichten immer Geschichten von leidenden Menschen, die in ihrer Verzweiflung alles ausprobieren. Die vielleicht auch deshalb teilweise so verrückt erscheinen, weil sie zuvor im Stich gelassen wurden und sich inzwischen an alles klammern.
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