Sport wollte er studieren, vielleicht auch endlich mit seiner Basketball-Mannschaft in die dritte Liga aufsteigen. Doch all das ist vorbei, als der junge Benjamin (Pablo Pauly) sich bei einem Sprung ins Becken den Halswirbel bricht. Bewegen kann er im Anschluss nichts mehr, keine Arme, keine Beine, wird es auch vielleicht nie wieder können. In einer Rehaklinik soll er wieder zu Kräften kommen und lernen, mit seinem neuen Körper klarzukommen. Einfach ist das nicht, auch weil das Personal so seine Marotten hat, vieles nicht so wirklich hinbekommt. Doch Benjamin ist nicht allein. Nach und nach schließt er Freundschaft mit Leidgenossen, mit Farid (Soufiane Guerrab), Toussaint (Moussa Mansaly) und Steve (Franck Falise). Und auch mit Samia (Nailia Harzoune), in die er sich Hals über Kopf verliebt.
Dass das Leben sich nicht sonderlich dafür interessiert, welche Pläne du so schmiedest, das ist eine Erfahrung, durch die die meisten von uns einmal müssen. Ob es nun angestrebte berufliche Laufbahnen sind, die plötzlich versperrt sind, zwischenmenschliche Beziehungen, die sich nicht wie gedacht entwickeln, oder auch größere Ereignisse, welche die Gesellschaft verändern – es kommt, was kommt. Selten kommt es aber so knüppeldick wie für Fabien Marsaud. Kurz vor seinem 20. Geburtstag sprang er in ein Schwimmbadbecken, dessen Wasserstand zu niedrig war, und verletzte sich dabei so stark, dass es hieß, er könne nie wieder laufen. Inzwischen nennt Marsaud sich Grand Corpse Malade, französisch für „Großer Kranker Körper“, und genießt als Poetry-Slam-Künstler daheim in Frankreich großen Ruhm – nach diversen Top-5-Alben schaffte er dieses Jahr mit Plan B sogar den ersten Platz.
Aus dem Leben gegriffen
In Marsauds Regiedebüt Lieber Leben, welches Motive seines autobiografischen Romans übernimmt, plaudert das Multitalent dann auch kräftig aus dem Nähkästchen. Eine reine Umsetzung seines Lebens ist der Film zwar nicht. Aber man merkt ihm doch deutlich an, wie sehr die Ereignisse hier auf persönlichen Erfahrungen beruhen. Das können die ungewöhnlichen Perspektiven sein, die zu Beginn verwendet werden und den Blickwinkel eines Querschnittsgelähmten einnehmen, oder auch ganz banale Szenen, wenn Ben zunächst daran scheitert, seinen Freunden das Salz zu reichen.
Im Grunde ist Lieber Leben dann auch ein Film darüber, mit einem Schicksalsschlag fertigzuwerden und Hindernisse zu überwinden, sich selbst neu zu entdecken und neu zu erfinden. Beispiele dafür gibt es viele, aktuell etwa Don’t worry, weglaufen geht nicht, wo ein US-Amerikaner plötzlich an den Rollstuhl gefesselt ist und später Karriere als Comicautor macht. Wo die Kollegen jedoch hässliche Abgründe mit überzogener Komik kreuzten, da liebt man es in Frankreich etwas harmonischer und geerdeter. Auch bei Ben und den anderen darf hin und wieder gescherzt werden. Aber es ist eher eine Art Galgenhumor, nach dem Motto: Humor ist wenn man trotzdem lacht.
Nicht alles hat ein Happy End
Zudem verzichtet Grand Corps Malade, der auch das Drehbuch mitschrieb, auf allzu offensive Feel-good-Elemente. Ben lernt dazu, ja. Lernt es, selbst mit dem Rollstuhl zu fahren. Lernt es, kleinere Bewegungen und Handgriffe auszuführen. Lieber Leben bleibt dabei aber nüchtern, schlachtet weder die glücklichen, noch die tragischen Momente aus. Mal überwiegt das eine, mal das andere. Nicht alles, was in dem Film seinen Ausgang nimmt, wird ein Happy End finden oder überhaupt einen nennenswerten Abschluss. Die Geschichte der Jugendlichen hat keinen roten Faden, so wie das Leben keinen roten Faden hat.
Doch das ist einer der Gründe, warum das festivalerprobte Drama – unter anderem Filmfest Emden und Französische Filmtage Tübingen-Stuttgart – so sehenswert ist. Es ist ein Querschnitt durch ein Leben, das gleichermaßen außergewöhnlich und gewöhnlich ist. Ein Film, der lehrt, wie wenig selbstverständlich unser Alltag ist. Aber auch die Figuren und deren Darsteller machen Lieber Leben zu etwas Besonderem. Sie können nervig sein, ohne Taktgefühl, mit großer Klappe, sind auch mal voller Selbstzweifel, nur um sich gegenseitig später Halt zu geben, sich zu unterstützen und das Leben in den Gängen einer Rehaklinik ein klein wenig besser zu machen. Große Erkenntnisgewinne nimmt man als Zuschauer eher weniger mit. Ben und die anderen dienen nicht einmal wirklich als Vorbilder. Wohl aber als Beispiele, wie sich das Leben am Ende doch wieder seinen Weg sucht und auf seine Weise spannend bleibt.
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