So richtig große Lust hat Asger Holm (Jakob Cedergren) ja nicht darauf, in der Notrufzentrale zu arbeiten. Viel lieber würde der Polizist wieder raus, auf Streife seine Fähigkeiten unter Beweis stellen. Stattdessen verbringt er seine Zeit damit, irgendwelche Anrufe entgegenzunehmen, von denen einer belangloser ist als der andere. Bis sie anruft: Iben. Sie sei entführt worden, flüstert sie in ihr Telefon, und würde nun mit ihm im Auto sitzen. Für Asger ist klar, dass er sie auf jeden Fall aus den Fängern ihres Entführers befreien muss. Doch das ist leichter gesagt denn getan. Schließlich kann er nicht aus der Zentrale raus, um persönlich einzugreifen. Also bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihr so viele Informationen wie möglich zu entlocken, ohne dass der Kidnapper etwas davon mitbekommt.
Ein bisschen überdrüssig durfte man sich der vielen Krimis und Thriller ja schon sein, die wir in den letzten Jahren aus dem hohen Norden importierten. So faszinierend es ursprünglich war, diese sehr düsteren Genrevertreter sehen zu dürfen, in denen die Ermittler keine strahlenden Helden, sondern kaputte Wracks waren, auf Dauer verkümmerte das doch zu einer Masche. Dass es auch anders geht, zeigt der dänische Thriller The Guilty, der nach diversen Festivalauftritten – unter anderem Sundance und das Filmfest München – im Herbst auch regulär unsere Leinwände beehren wird.
Helden sehen anders aus
Wobei, so ganz anders ist Asger nicht. Dass der Polizist nicht unbedingt den Idealen eines Freundes und Helfers entspricht, das verrät The Guilty schon relativ früh. Mal ist es die Art und Weise, wie er mit den Leuten am anderen Ende der Leitung umgeht, die sein etwas eigenes Verhältnis zur Zwischenmenschlichkeit verrät. Aber auch Anspielungen baute Regisseur und Co-Autor Gustav Möller immer mal wieder ein. Anspielungen, dass der Herr in der ehrwürdigen Uniform sich nicht immer ehrwürdig verhält.
Doch was genau seine Hintergrundgeschichte ist, das wird erst nach und nach verraten, wenn der Protagonist mal mit dem Opfer, mal mit Kollegen spricht. Gleiches gilt für den Fall an sich, der seine Geheimnisse erst mit der Zeit preisgibt. Denn vieles hier ist nicht das, wonach es ausschaut. Diese Wendungen sind auch deshalb bemerkenswert, weil The Guilty im Grunde ein sehr geradliniger Film ist. In Echtzeit wird erzählt, wie der Polizist um das Leben einer Fremden kämpft, ohne sich dabei nennenswert vom Platz zu bewegen: Der komplette Film spielt in einer Notrufzentrale.
In bester Gesellschaft
Filmisches Referenzmaterial gibt es hierfür natürlich einiges. Der Vergleich zu The Call – Leg nicht auf! ist naheliegend, wo Halle Berry als Mitarbeiterin einer Notrufzentrale eine entführte Jugendliche zu befreien versucht. Aber auch No Turning Back lässt grüßen, der Tom Hardy anderthalb Stunden während diverser Telefonate bei einer Autofahrt zeigt. Der eine oder andere mag sich zudem an Pontypool erinnert fühlen: In dem kanadischen Kultfilm begleiten wir eine Zombieapokalypse lediglich in einem Radiosender, während wir von da draußen nichts sehen. So wie bei diesen Beispielen ist The Guilty in erster Linie Kopfkino. Zwar wird durch die vielen Close-ups die steigende Anspannung von Asger noch etwas deutlicher. Vieles hier hätte aber auch als Hörspiel prima funktioniert.
Die Spannung des Films besteht dann auch aus dem Zusammenspiel von Hilflosigkeit und Unwissenheit. Immer wieder können Minuten vergehen, in denen wir keine Ahnung haben, was mit Iben passiert ist, ob sie überhaupt noch lebt. Aber auch die allmähliche Intensivierung, wenn The Guilty Blicke in Abgründe freigibt, tragen dazu bei, dass trotz fehlender Handlung keine Langeweile auftritt. Zum Ende hin schleicht sich schon der eine oder andere wenig plausible Moment ein, nicht alles ist psychologisch ganz nachvollziehbar. Insgesamt ist die beklemmende Mischung aus Entführungsthriller und Charakterporträt aber ein echter Geheimtipp, den sich Freunde düsterer Geschichten nicht entgehen lassen sollten.
OT: „Den skyldige“
Land: Dänemark
Jahr: 2018
Regie: Gustav Möller; Darsteller: Jakob Cedergren
Drehbuch: Gustav Möller, Emil Nygaard Albertsen
Musik: Carl Coleman, Caspar Hesselager
Kamera: Jasper Spanning
Sundance Film Festival 2018
International Film Festival Rotterdam 2018
Filmfest München 2018
Filmkunstmesse Leipzig 2018
/slash Filmfestival 2018
Fantastic Fest 2018
Zurich Film Festival 2018
Wenig Spielraum, große Spannung: Folgende Filme spielen alle nur an einem Ort und sind trotzdem bzw. genau deshalb auch sehr sehenswert.
Ex Machina (2015)
The Invitation (2015)
The Survivalist (2015)
The Autopsy of Jane Doe (2016)
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