The Innocents
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The Innocents – Staffel 1

The Innocents
„The Innocents – Staffel 1“ // Deutschland-Start: 24. August 2018 (Netflix)

Eigentlich hatten June (Sorcha Groundsel) und Harry (Percelle Ascott) das ganz anders geplant. Sie wollten alles hinter sich lassen, das alte Leben, die schwierigen Familienverhältnisse. Gemeinsam ganz von vorne starten, anstatt ins schottische Nirgendwo ziehen zu müssen. Doch schon bald ist nichts mehr so, wie sie es einmal kannten. Verfolgt von einem seltsamen bärtigen Mann (Jóhannes Haukur Jóhannesson) stellt June fest, dass sie die Möglichkeit hat, die Gestalt anderer Menschen anzunehmen. Während die Jugendliche mit ihrem Schicksal hadert und versucht, aus der Sache schlau zu werden, heften sich immer mehr Leute an ihre Fersen, darunter Junes Vater (Sam Hazeldine) und Harrys Mutter (Nadine Marshall), die ganz eigene tragische Vorgeschichten haben.

Dass Netflix eine jugendliche Klientel fest im Blick hat, das demonstriert der Streamingdienst nahezu jede Woche. Meistens beschränkt er sich dabei auf romantische Komödien, etwa To All the Boys I’ve Loved Before oder Candy Jar. Die sind oft nett, handeln von pubertären Selbstfindungstrips, der alltäglichen Unsicherheit und dem ewigen Kampf mit verwirrenden Gefühlen. The Innocents tut das auch, verbindet diese gewöhnlichen Themen jedoch mit einem sehr ungewöhnlichen Szenario, tauscht jeden Humor gegen eine dicke Portion Mystery.

Ganz normal und doch rätselhaft
Tatsächlich versuchen Simon Duric und Hania Elkington, die gemeinsam die Serie entwickelt haben, den Balanceakt, beides einigermaßen gleichberechtigt zu behandeln. Während die Zuschauer von The Innocents kontinuierlich darüber nachgrübeln dürfen, was es genau mit dieser Fähigkeit auf sich hat, müssen sich die beiden jungen Protagonisten mit ihren Gefühlen auseinandersetzen. Gefühle, die sie füreinander haben, ohne sich dessen so richtig bewusst zu sein. Gefühle auch, die mit ihren jeweiligen familiären Situationen zusammenhängen. Gerade June leidet doch sehr unter der Bevormundung ihres Vaters, der ihr keinen Raum zur Entfaltung zugesteht.

Die Idee, das Bild des Gestaltenwandlers zu nehmen, um die Veränderungen der Pubertät zu verdeutlichen, die ist originell und sehr schön. Gerade auch weil June keine Ahnung hat, was da mit ihrem Körper geschieht und wie sie das alles kontrollieren soll, darf sich das Zielpublikum in dem Teenager wiederfinden. Zugegeben, sich in einen älteren bärtigen Mann zu verwandeln, ist eine Erfahrung, die nur wenige darunter mal machen dürften. Als Metapher für das, was einem in diesem Alter geschieht, wenn der Körper ein Eigenleben entwickelt, funktioniert es aber sehr gut.

Wer bin ich, wenn ich nicht ich bin?
Interessant sind zudem einige heikle Situationen, die sich daraus ergeben. The Innocents begnügt sich eben nicht nur damit, June auf der Flucht ständig eine neue Gestalt zu verpassen. Die Serie nutzt die Gelegenheit zudem, um Fragen zu Identität und Ethik zu stellen. Das können mal banalere Szenen sein, wenn sich Harry – aus verständlichen Gründen – schwer damit tut, June zu küssen, wenn die gar nicht wie June aussieht. Manchmal wird es aber auch etwas existenzieller. Gibt es so etwas wie eine feste Persönlichkeit? Wie sehr werde ich durch das beeinflusst, was mir widerfährt? Was ist dieses „ich“ überhaupt?

Zumindest phasenweise ist The Innocents daher durchaus auch für ein älteres Publikum sehenswert – für den Inhalt wie für die umwerfenden Bilder aus Norwegen, die im weiteren Verlauf auf uns warten. Im Gegenzug bedeutet das aber auch, sich auf viele Konventionen und Klischees des Teeniedramas einlassen zu müssen, und ein klein wenig Kitsch. Eine weitere Schwäche ist das Tempo, das nicht immer ganz glücklich gewählt ist. Die Entscheidung, zwei parallele Handlungsstränge erzählen zu wollen – die Flucht der Jugendlichen und Einblicke in ein entfernt liegendes Labor –, führt dazu, dass es oft etwas langsam vorangeht. Den einen oder anderen mag das auf eine wohlige Folter spannen, gerade auch wenn manche Szenen sehr in die Länge gezogen werden. Aber da ist schon viel Füllmaterial dabei, nicht immer spannendes zudem, selbst für eine Staffel, die nur acht Folgen umfasst. Dafür überschlagen sich die Ereignisse später so richtig, was nicht unbedingt der Balance zugutekommt, aber doch zumindest neugierig macht, wie es in einer zweiten Staffel weitergehen könnte.



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Eine Jugendliche will ein eigenes Leben führen und muss dann feststellen, dass sie die Gestalt anderer Menschen annehmen kann: Das ist eine originelle und schöne Metapher für die körperlichen Verwandlungen und Unsicherheiten eines Teenagers. „The Innocents“ gefällt zudem durch den Mystery-Aspekt und einige interessante Fragen zu Persönlichkeit und Ethik. Zumindest die erste Staffel neigt aber immer wieder zu Konventionen und hat auch so ihre Probleme beim Tempo.
6
von 10