Es läuft nicht gut im Leben von Kai Ashimoto. Als wäre es nicht auch so schon schlimm genug, dass seine Eltern sich haben scheiden lassen, muss er auch noch mit seinem Vater umziehen. Auf Wiedersehen Großstadtleben in Tokio, hallo verschlafenes Fischerkaff Hinashi. Viel gibt es dort nicht zu tun, ein Tag ist wie jeder andere. Zum Glück hat Kai aber immer noch seine Musik, die er heimlich aufnimmt und im Internet hochlädt. Dort werden eines Tages seine Mitschüler Kunio und Yūho auf ihn aufmerksam und drängen ihn dazu, bei ihrer Band Seiren mitzuspielen. Große Lust hat er nicht, auf einen Versuch lässt er sich aber ein. Mit ihrem Auftritt in einem verlassenen Inselpark ziehen sie jedoch gleich die Aufmerksamkeit eines ganz besonderen Publikums auf sich: die Meerjungfrau Lu, die nicht genug von Musik bekommen kann.
Lange genug hat es ja gedauert. Auch wenn Masaaki Yuasa sicher nicht untätig war, im Laufe der Jahre an diversen Serien beteiligt war, ein neuer Film des Anime-Regisseurs war uns nicht vergönnt. Genauer dauerte es sage und schreibe 13 Jahre, bis er seinem Debüt Mind Game einen zweiten Spielfilm folgen ließ. Dafür gab es aber letztes Jahr gleich doppelt Nachschub: Yuasa inszenierte die Romanadaption Night Is Short, Walk On Girl und drehte zudem mit Lu Over the Wall noch einen zweiten Film, der nach zahlreichen Festivalauftritten – unter anderem Nippon Connection – nun auch bundesweit in die Kinos kommt.
Bilder, die nicht von dieser Welt sind
Und dorthin gehört das Werk auch. So schön es ist, wenn mit Lu Over the Wall mal wieder etwas von Yuasa hierzulande auf Disc erscheint – den meisten seiner Serien wurde ein solcher Release vorenthalten –, die Bilder hier sind es wert, dass man sie auch mal ein wenig größer zeigt. Genauer ist der Film ein erneutes Beispiel dafür, dass der Japaner zu den herausragendsten Mitgliedern seiner Zunft zählt. Ähnlich verspielt und variantenreich wie hier geht es im Animesegment nur selten zu.
Tatsächlich sind es allein die japanischen Kulissen bzw. das Setting allgemein, die die fernöstliche Herkunft verrät. Ansonsten sehen Kai und die anderen nicht wie das aus, was uns Animes üblicherweise in puncto Design so vorgeben. Die Figuren sind gleichzeitig realistischer und stilisierter, so wie Lu Over the Wall allgemein ganz gerne mal Grenzen aufhebt. An manchen Stellen wirkt die Film wie ein klassischer Cartoon aus dem US-Archiv, an anderen wird es bonbonbunt, eine Wundertüte aus komischen, abgedrehten bis zu surrealen Elementen. Und doch wirkt alles wie aus einem Guss, zerfällt eben nicht wie Mind Game seinerzeit in verschiedene Bestandteile.
Die Geschichte kenne ich (fast)
Inhaltlich ist der zusammen mit Reiko Yoshida (A Silent Voice) geschriebene Film eher unauffällig. Ein Mensch freundet sich mit einem Fabelwesen an und muss dieses vor den anderen Menschen schützen, das dürfte jeder Zuschauer schon von E.T. kennen. Und auch der Anime-Bereich wimmelt vor solchen Geschichten, Hayao Miyazaki erzählte bei Ponyo – Das große Abenteuer am Meer von einem ähnlichen Meereswesen. Zumal Yuasa sich ziemlich viel Zeit lässt, bis der Aspekt überhaupt eine Rolle spielt. Auch die Hintergründe der Stadt müssen warten, Kai und seine Musik haben hier Vorrang.
Die gehört dann aber auch zu den Höhepunkten des Films, vor allem eine Szene, in der das Trio zusammen mit Lu auch bei den Menschen für richtig Schwung sorgt, ist auf eine Weise mitreißend, wie man es nur selten sieht. Später kommen noch andere Stimmungen hinzu, es wird düsterer, teilweise auch emotionaler. Vor allem aber die Freunde ungewöhnlicher Animes dürfen sich das hier nicht entgehen lassen. Lu Over the Wall packt so viele skurrile und doch liebenswürdige Momente in seine rund 110 Minuten, dass einem das Herz übergeht. Das mit der Balance stimmt nicht immer so ganz, manches ist ausführlich, anderes ein bisschen kurz. Aber das gehört zu diesem wilden Wasserabenteuer einfach dazu, das lehrt, dass anders nicht verkehrt sein muss. Hier heißt es loslassen, Spaß haben und mit den Beinen zu den flotten Rhythmen wippen – menschlichen wie nicht-menschlichen.
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