Laura (Penélope Cruz) reist gemeinsam mit ihren beiden Kindern von Argentinien in ihren Heimatort nach Spanien, um an der Hochzeit ihrer jüngsten Schwester teilzunehmen. Nach vielen Jahren trifft sie zum ersten Mal wieder auf ihren Vater, ihre beiden Schwestern und auch auf einen alten Bekannten. Paco (Javier Bardem) ist ein Freund der Familie und besitzt ein prächtiges Weingut außerhalb der Stadt. Inmitten der turbulenten Hochzeitsfeierlichkeiten wird Lauras Tochter Irene (Carla Campra) entführt. In den Tagen nach ihrem Verschwinden steigt die Anspannung in der Familie so weit, dass längst vergrabene Geheimnisse an die Oberfläche treten.
Family Affair
Nach dem überraschenden Erfolg mit Nader und Simin – Eine Trennung, der 2012 den Oscar für den besten ausländischen Film gewann, und zwei weiteren erstklassigen Spielfilmen bringt Drehbuchautor und Regisseur Asghar Farhadi mit Offenes Geheimnis, seinem ersten spanischsprachigen Film, ein weiteres Familiendrama auf die große Leinwand. Gepaart mit einem herausragenden Cast sind die Erwartungen entsprechend hoch. Penélope Cruz schlüpft in die Rolle der Laura und stellt ihr unanfechtbares Talent mit der Darbietung eines Spektrums extremer Emotionen unter Beweis. Ihr ebenso begnadeter Costar und Ehemann im echten Leben Javier Bardem spielt den tragischen Helden Paco. Hinzu gesellt sich der südamerikanische Superstar Ricardo Darìn (Ein Freitag in Barcelona, In ihren Augen), der als Lauras ausgebrannter Ehemann aus Argentinien anreist und hilflos um das Leben seiner Tochter bangt. Das Schauspiel der Hauptfiguren, wie der Nebendarsteller ist über die gesamte Spielzeit von 132 Minuten ein einziger Genuss. Die jeweilige Charakterentwicklung, die emotionale Belastung, der Zustand innerer Zerrissenheit werden tiefgreifend und allumfassend eingefangen und wiedergegeben.
Unter Verdacht
Farhadi setzt sich mit der Ausgangssituation einer Kindesentführung einen ergiebigen Nährboden für das komplexe und hochemotionale Familiendrama, zu dem Offenes Geheimnis heranwachsen soll. Als die Hochzeitsfeierlichkeiten im Innenhof des Familienanwesens ihren Zenit erreichen, verschwindet die jugendliche Irene aus ihrem Schlafzimmer. Ist sie weggelaufen? Versteckt sie sich? Oder ist tatsächlich das Undenkbare eingetreten? Laura ist außer sich, die Familie steht unter Schock. Paco fängt Laura in ihrer Verzweiflung auf und setzt alles daran, den Entführern auf die Spur zu kommen – und das nicht ohne Grund. Früh im ersten Akt erfährt man, dass Laura und Paco in der Vergangenheit ein Paar waren. Aus dem Ausnahmezustand entwickelt sich bald ein komplexer Thriller, in dem jedes Familienmitglied und jeder Gast der Hochzeitsfeier ein Verdächtiger ist. Selbst wenn dies meist nicht offen ausgesprochen wird, wird der Zuschauer mit clever gesetzten Dialogen und Kommentaren, nebulösen Hintergrundfakten und filmischen Stilmitteln, wie symbolbeladenen Bildern oder fehlleitender Kameraarbeit, gefüttert, so dass am Ende jede Figur als Täter infrage kommt. Dabei wird allerdings mit großer Vorsicht darauf geachtet, nie zu dick aufzutragen, sondern stattdessen ein hohes Maß an Authentizität zu bewahren.
Auf zweiter Ebene ist Offenes Geheimnis, das die Filmfestspiele von Cannes 2018 eröffnete, ein intensives Familiendrama. Die Geschichten der Charaktere sind ineinander verwoben. Obwohl Laura seit Jahren auf der anderen Seite des Planeten lebt, holt sie ihre Vergangenheit ein. Geheimnisse, die nie ans Tageslicht dringen sollten, erdrücken ihre Hüter und brechen unter den gegebenen Umständen schließlich aus. Das Misstrauen und die Vorwürfe untereinander bestimmen den unerträglichen Alltag und die Entscheidungskraft der Familienmitglieder. Der Film beweist aufgrund der bis ins letzte Detail durchdachten Figuren und Handlungsstränge eine überraschende Tiefe. Um den nervenaufreibenden Kern spinnt sich eine Vielzahl von Nebenhandlungen, die einerseits den Effekt der Entführung auf die betroffene Figur zeigen sollen, um andererseits den Zuschauer in die Irre zu führen. Auch hier verliert sich der Film nicht in kitschiger Theatralik, sondern fängt sich immer knapp vor der Kippe zur Soap-Opera.
Ganz nebenbei eröffnet der Film eine dritte, sozialkritische Ebene. In all der Munkelei verdächtigen sich die Familienmitglieder nicht nur untereinander, sondern der erste Argwohn richtet sich gegen die ausländischen Zeitarbeiter auf Pacos Weingut und schließlich gegen Paco selbst. Er wird als Sohn einer Arbeiterfamilie beleidigt und muss den Vorwurf ertragen, das Weingut, das einst Lauras Familie gehörte, viel zu billig erworben zu haben. Somit macht der Film nicht nur bemerkenswerte Beobachtungen in Bezug auf komplizierte Familienverhältnisse, sondern auch auf den Einfluss von Klasse und Status in unerwartet brenzlichen Situationen.
Abgeflauter Schluss
Doch leider bekommt man im letzten Drittel des Films allmählich das Gefühl, dass dem Drehbuch die Luft ausgeht. Nach vielen (mal mehr, mal weniger) erschreckenden Wendungen, kann sich der Spieß allem Anschein nach nicht noch einmal drehen. Diese Begebenheit resultiert schlussendlich in einer vergleichsweise platten Auflösung. Nach stundenlanger Rätselei findet der Film zumindest im Genre des Thrillers kein befriedigendes Ende. Wenn man allerdings die Entwicklung der Figuren und deren finalen Zustand in Betracht nimmt, ist Offenes Geheimnis bis zum Schluss ein herausragendes Beispiel eines vielschichtigen Scripts und sensationellem Schauspiels.
OT: „Todos lo saben“
IT: „Everybody Knows“
Land: Spanien, Frankreich, Italien
Jahr: 2018
Regie: Asghar Farhadi
Drehbuch: Asghar Farhadi
Kamera: José Luis Alcaine
Musik: Javier Limón
Besetzung: Penélope Cruz, Javier Bardem, Ricardo Darín, Bárbara Lennie, Carla Campra, Jaime Lorente, Bárbara Lennie, Inma Cuesta, Eduard Fernández, Sara Sálamo, Elvira Mínguez
Cannes 2018
Filmfest München 2018
Fünf Seen Filmfestival 2018
Toronto International Film Festival 2018
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