Wer weiß, was Gentrifizierung bedeutet, der ist ein Teil von ihr, heißt es hier zum Ende. Das ist mindestens schelmisch, wenn nicht gar ziemlich provokativ. Als Teil eines normalen Dokumentarfilmes hätte man diese Aussage sogar als Beleidigung auffassen können. Doch glücklicherweise hat Thomas Haemmerli mit Die Gentrifizierung bin ich keinen normalen Dokumentarfilm gedreht. Informativ ja, gleichzeitig aber dreist, bewusst Grenzen überschreitend, auf viele, sehr viele Weisen.
Das fängt schon bei der Geografie an: Mal sind wir in Zürich unterwegs, der Geburtsstadt des Schweizer Filmemachers und Journalisten. Es geht nach Mexiko, dem Heimatland seiner Partnerin. Aber auch Brasilien ist eines der Länder, die auf der Programmroute von Haemmerli stehen. Dabei ist Die Gentrifizierung bin ich, das auf dem Zurich Film Festival 2017 debütierte, kein Film übers Reisen. Vielmehr nutzt der Kosmopolit seine Erfahrungen, um etwas über die unterschiedlichen Auffassungen zur Städteplanung und dem Wohnungsbau zu sagen.
Städte als Spiegel der Seele
Natürlich sind die Städte allein schon der Größenordnung wegen kaum miteinander zu vergleichen: 13 Millionen Einwohner in São Paulo, das ist eine andere Hausnummer als die 400.000 der Schweizer Metropole. Und doch ist es faszinierend, wie unterschiedlich die beiden Länder an die Herausforderung angehen, die Menschen unterzubringen. Während in der Schweiz viele lautstark gegen eine Verdichtung der Wohnverhältnisse protestieren, lieber nicht zu nahe an anderen sein möchte, da setzt man in Südamerika auf größtmögliche Effizienz. Hochhäuser sind nicht verpönt, sondern eine akzeptierte Lösung, teilweise sogar Prestigeobjekt.
Der Korrespondent des Schweizer Fernsehens hat aber nicht nur etwas über die vielen Länder zu sagen, in denen er mal gelebt hat. Zeigt uns nicht nur die Schweiz im Wandel, einschließlich der auch anderweitig um sich greifenden Angst vor einer Überfremdung. Der Film ist eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Thema, wie der Titel verrät. Gentrifizierung – das Phänomen, dass Bewohner eines Stadtteils durch reichere verdrängt werden –, das bedeutet eben nicht zwangsweise, dass Superstars oder Unternehmensbosse Sozialblocks abreißen, um Luxuswohnungen zu bauen. Es ist oft ein schleichender Prozess, unbemerkt, manchmal auch ungewollt.
Ein ernstes Thema, mit viel Humor aufbereitet
Haemmerli nimmt sich davon selbst nicht aus, geht durchaus selbstkritisch an das Thema heran, wenn er zahlreiche Anekdoten mit seinem Publikum teilt. Aber er nimmt es gleichzeitig mit Humor – der Untertitel Beichte eines Finsterlings verrät es. Mal sind es bissige Seitenhiebe, mal nimmt er die eigene Geschichte aufs Korn, auch kleinere Absurditäten dürfen dabei nicht fehlen. Dazu spielt er mit jeder Menge optischer Elemente zur Auflockerung, die das trockene Thema selbst für Zuschauer öffnen, die damit eigentlich nichts anfangen können. Die vielleicht generell nicht so für Dokumentarfilme zu haben sind.
Die Kehrseite der Medaille: Die übliche Zielgruppe für solche Sozialdokus könnte etwas unglücklich über das doch sehr verspielte Die Gentrifizierung bin ich sein. Die schillernde, manchmal etwas selbstverliebte Doku ist nichts für diejenigen, die in erster Linie nüchterne Fakten wollen. Ganz verzichtet Haemmerli zwar nicht auf diese. Sie sind in dem essayistischen Zugang aber nur ein Mittel zum Zweck, ein Element unter vielen. Wem es gar nicht so sehr darum geht, das Thema Gentrifizierung in all seinen Facetten kennenzulernen, der findet hier einen unterhaltsamen und abwechslungsreichen Einstieg, der darauf hoffen lässt, dass der Schweizer noch häufiger mal filmisch aus dem Nähkästchen plaudern wird.
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