Es gibt zwei große Träume im Leben von Lara (Victor Polster). Zum einen möchte sie Ballerina werden, weswegen sie auch sehr glücklich ist, an einer renommierten Tanzschule aufgenommen worden zu sein. Dafür ist sie sogar mit ihrem Vater Mathias (Arieh Worthalter) und ihrem jüngeren Bruder Milo (Oliver Bodart) nach Brüssel gezogen. Zum anderen möchte sie aber auch endlich sie selbst sein. Denn geboren wurde das Mädchen als ein Junge. Die Vorbereitung auf eine Geschlechtsanpassung laufen bereits, sie nimmt Medikamente, ist in ärztlicher und psychologischer Betreuung. Doch die Doppelbelastung aus hartem Tanztraining und Umwandlung macht ihr zunehmend zu schaffen, die Entwicklung ist der 15-Jährigen zu langsam.
Der LGBT-Bereich ist in Film und Fernsehen eigentlich recht gut abgedeckt. Es gibt mehrere spezialisierte Verleihe, eine ganze Reihe von Festivals und natürlich jede Menge Produktionen, die sich mit dem Themenspektrum befassen. Jedoch ist hierbei eine sehr deutliche Hierarchie zu beobachten: Ein Großteil der Werke befasst sich nur mit den ersten beiden Buchstaben der Abkürzung, L für Lesbian, G für Gay. Also Menschen, die am eigenen Geschlecht sexuelles Interesse haben. Bisexuelle, das B in dem Wort, werden weniger beachtet, obwohl diese ganz eigene Probleme plagt. Und Transsexuelle kommen erst recht nicht vor, allenfalls irgendwelche Drag Queens, was fälschlicherweise für dasselbe gehalten wird.
Zwischen Selbstsuche und Vorurteilen
In seinem Spielfilmdebüt nimmt sich Lukas Dhont nun genau dieses Themas an, wenn er ein Mädchen in den Mittelpunkt stellt, das biologisch gesehen ein Junge ist. Das Publikum merkt davon zunächst jedoch nur wenig, die feinen Gesichtszüge von Victor Polster, sein graziöses Auftreten, die langen Haare – er würde eben auch als Vertreter des „schwachen“ Geschlechts durchgehen. Hinzu kommt die Beschäftigung mit dem Tanzen. Das gilt allgemein ja eher als weibliche Tätigkeit, besonders im Bereich Ballett. An diesen Stellen fließen auch Dhonts eigene Erfahrungen mit ein, der als Junge lieber tanzen und schauspielern wollte und dabei mit jeder Menge Vorurteile zu kämpfen hatte.
Der belgische Regisseur und Co-Autor lässt diese jedoch im Hintergrund. Lara muss sich hier vor niemandem rechtfertigen, hat es mit einem auffallend toleranten Umfeld zu tun. Ihr Vater ermöglicht ihr alles, geht auch den Schritt der Geschlechtsumwandlung mit. Die Tanzlehrer reagieren voller Verständnis auf ihre besondere Situation. Nicht einmal an der Schule kommt es zu nennenswerten Problemen. An einer Stelle werden Mitschülerinnen übergriffig. Doch das hat mehr mit Neugierde zu tun als mit Bösartigkeit oder Abscheu, echtes Mobbing kommt in Girl nicht vor.
Eine ungewöhnlich bekannter Kampf
Das bedeutet jedoch nicht, dass das Drama frei von Konflikten ist. Doch diese spielen sich in erster Linie in Lara selbst ab. Natürlich ist ihre Situation eine besondere, echte Transsexualität ist ein eher seltenes Phänomen, in Deutschland sollen deutlich unter einem Prozent davon betroffen sein. Girl schafft es jedoch, aus diesem für viele fremde Thema etwas sehr Greifbares zu machen. Sich in dem eigenen Körper unwohl zu fühlen, nicht zu wissen, wer man eigentlich ist, das sind Phasen, die den meisten vertraut sein dürften. Vor allem in der Pubertät. Und auch wenn das hier eine deutlich verschärfte Fassung darstellt, der Grundgedanke und die damit verbundenen Probleme, die lassen sich auch universell auffassen.
Das in Cannes uraufgeführte und mehrfach prämierte Girl überzeugt dabei nicht nur durch Dhonts Einfühlsamkeit, der behutsam von einer schwierigen Selbstfindung erzählt. Es ist auch Polsters Darstellung, die den Film sehenswert macht. In seinem feinen Spiel spiegelt sich der Konflikt wieder, die Unsicherheit und Ungeduld, die Verzweiflung. Aber eben auch das Glück, wenn der schwierige Weg zum eigenen ich und dem Körper einer Frau Fortschritte macht, kleine Erfolgserlebnisse mit sich bringt. Trotz der Distanz von Lara, die niemanden an sich heranlässt: Man spürt und sieht hier genau, was in ihr vorgeht. Ob es das dramatische Ende gebraucht hätte, darüber lässt sich streiten. So oder so wäre es dem kleinen belgischen Film zu wünschen, dass er im Kino nicht übersehen wird, dafür hat er zu viel zu erzählen.
OT: „Girl“
Land: Belgien
Jahr: 2018
Regie: Lukas Dhont
Drehbuch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens
Musik: Valentin Hadjadj
Kamera: Frank van den Eeden
Besetzung: Victor Polster, Arieh Worthalter
Cannes 2018
Toronto International Film Festival 2018
Filmfest Oldenburg 2018
Zurich Film Festival 2018
Schlingel 2018
Film Festival Cologne 2018
Lesbisch Schwule Filmtage Hamburg 2018
Queer-Streifen Regensburg 2018
Queer Filmfest Weiterstadt 2018
Filmfest Braunschweig 2018
QueerFilmFestival Esslingen 2018
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