Die 25-jährige Sibel (Damla Sönmez) lebt mit ihrem Vater Emin (Emin Gürsoy) und ihrer Schwester Fatma (Elit Iscan) in einem abgelegenen Dorf in den Bergen des Schwarzen Meeres der Türkei. Das Verhältnis zu den anderen Dorfbewohnern ist dabei recht schwierig. Nicht nur, dass Sibel stumm ist und ausschließlich mittels Pfeiflauten kommuniziert. Sie hält sich zudem nicht an die üblichen Gepflogenheiten, die dort herrschen. Als sie während einer ihrer Versuche, einen Wolf zu erlegen, der bei den Frauen Angst und Schrecken verbreitet, dem verwundeten Ali (Erkan Kolçak Köstendil) begegnet, wird die Situation noch komplizierter. Eine unverheiratete Frau, die sich mit einem Deserteur trifft? Das ist zu viel für die traditionelle Gemeinschaft. Nicht einmal ihr Vater, der Bürgermeister des Dorfes, kann ihr nun noch helfen.
Ein Mädchen, das alleine durch den Wald streift, in dem ein böser Wolf hausen soll – da melden sich unweigerlich Assoziationen zu Rotkäppchen zu Wort. Doch auch wenn Sibel etwas betont Märchenhaftes an sich hat, man hier immer wieder das Gefühl hat, durch ein verwunschenes Land zu stolpern, mit der berühmten Märchenfigur hat sie nur wenig gemeinsam. Sich von einem bösen Wolf vernaschen lassen? Das liegt Sibel fern. Sie päppelt das verletzte Tier im Mann lieber auf und pfeift auf jeden, der ihr etwas vorschreiben will – wortwörtlich.
Die Sehnsucht einer starken Frau
Das soll nicht bedeuten, dass die junge Frau völlig immun gegenüber der Gewalt von anderen wäre. So sehr sie auf Konfrontationskurs geht und versucht, ihren Kopf durchzusetzen, insgeheim sehnt sie sich durchaus nach Anerkennung und Nähe. Ein Versuch, diese bei den Menschen zu finden, gehört zu den emotionalsten Momenten des Dramas, endet in Demütigung und Tränen. Dafür sind andere umso warmherziger, wenn sie und der Deserteur sich näherkommen. Sibel wird hier zu einer typischen Außenseitergeschichte: Wir gegen den Rest der Welt.
Das oft etwas selbstvergessene Szenario – der Rest der Welt scheint hier nicht so wirklich zu existieren – wird durch beiläufige Kommentare zu eben dieser Welt kontrastiert. Da gibt es die politisch geförderte Unterdrückung Andersdenkender. Gleichzeitig werden hier alte Traditionen regelmäßig hinterfragt, verkörpert durch die rebellische Sibel. Dürfen Männer nach dem Tod der Frau unverheiratet bleiben? Was ist überhaupt die Rolle der Frau, in der Ehe, in der Gesellschaft? Wie ist es um die Selbstbestimmung der Menschen bestellt? In dem Dorf folgen die Antworten den bekannten Vorgaben. Kritisches Fragen ist da eher nicht angesagt, man lebt noch so, wie man immer lebte.
(Fast) allein auf weiter Flur
Eine wirkliche Alternative dazu bauen Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti, die Regie führten und das Drehbuch mitschrieben, nicht auf. Sibel ist nicht die Geschichte eines Kampfes zwischen Tradition und Moderne. Dafür fehlt es an Mitstreitern, die der stummen Protagonistin wirklich helfen würden. An einer Perspektive, dass sich hier wirklich etwas ändern könnte. Umso berührender sind die Momente des Glücks, wenn selbst sie – verachtet von den Frauen, belächelt von den Männern – einen Platz zu finden glaubt. Das Märchen die Hoffnung weckt, dass am Ende Mädchen und Wolf gemeinsam den Menschen trotzen, die sie in den Wald verbannt haben.
Das Drama, welches beim Locarno Festival 2018 Weltpremiere feierte und dort auch ausgezeichnet wurde, ist gleichzeitig schön und traurig, mutig und konventionell, hat viel über unsere Welt zu sagen, tut dies über die Umwege des Märchens. Und es ist trotz der düsteren Themen irgendwo heiter. Wie oft sieht man schon jemanden, der ausschließlich mit Pfeifen kommuniziert? Zum Glück fand sich hierfür mit Damla Sönmez die passende Darstellerin, die nicht nur eben dieses Pfeifen beherrscht, sondern auch die notwendige Verletzlichkeit und Stärke in einem verkörpert. Die es auch schafft in den anderthalb Stunden jede Menge zu sagen, ohne ein einziges Wort dafür zu brauchen.
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