In Horrorfilmen oder auch Thrillern ist die Situation klar: Wenn sich da irgendwo eine verschlossene Tür in einem Haus befindet, durch die seit Jahren niemand mehr gegangen ist, dann steckt dahinter ein ganz finsteres Geheimnis. Etwas, das man besser erst gar nicht freisetzen sollte. Nun ist Die andere Seite von Allem aber ein Dokumentarfilm, also in der Realität verankert. Außerdem wissen die Protagonisten hier sehr wohl, was auf der anderen Seite auf sie wartet: eine Wohnung. Ihre Wohnung. Die wurde nämlich vor 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von Funktionären des kommunistischen Regimes in Serbien geteilt. Die eine Hälfte gehörte danach noch Familie Turajlic, den eigentlichen Besitzern. Die andere wurde sonstigen Bürgern zur Verfügung gestellt.
Wenn gegen Ende von Die andere Seite von Allem die Tür doch noch geöffnet wird, mit vereinten Kräften der Familie, dann hat das natürlich etwas sehr Symbolisches. Denn auch der Film will Türen öffnen, im übertragenen Sinne. Und auf eine sehr persönliche Weise. Regisseurin Mila Turajlic nimmt ihre familiäre Situation als Ausgangspunkt, um die letzten Jahrzehnte der serbischen Geschichte Revue passieren zu lassen. Dafür muss sie nicht einmal sehr weit gehen: Ihre Mutter Srbijanka hat jede Menge zu dem Thema zu sagen, war sie doch eine bedeutende Freiheitskämpferin Serbiens, arbeitete eine Zeit lang sogar für die Regierung.
Der Drang nach Gerechtigkeit
Der Weg dorthin war jedoch lang und beschwerlich. Juristin wollte sie eigentlich werden, wie so viele in ihrer Familie. Auf Anraten ihres Bruders – in diesem Land gibt es keine Gerechtigkeit, nur Schwierigkeiten – entschied sie sich aber für die Politik. Schwierigkeiten bekam sie jedoch auch da mehr als genug. Akademischen Erfolgen zum Trotz, die sie in Kalifornien wie in Belgrad unterrichten ließen, eckte sie mit ihrem Einsatz immer wieder an. Denn selbst ohne Anwaltsrobe, der Wunsch nach Gerechtigkeit ließ sie nicht los. So wie viele an der Universität offen gegen die Unterdrückung durch die Politik rebellierten.
Die andere Seite von Allem lässt dabei die Grenzen zwischen dem Persönlichen und dem Politischen verschwinden. Historische Aufnahmen stehen da durchaus gleichberechtigt neben Familientreffen, in denen die Turajlics kleinen Ritualen nachgehen und sich gegenseitig auf den Arm nehmen. Denn der Alltag war ohnehin immer auch politisch, wie hier klar wird. Dafür sorgte schon der Geheimdienst, der regelmäßig auftauchen und nach dem Rechten sehen konnte. Bis heute klingeln Freunde hier deshalb dreimal, als Erkennungszeichen, dass sie es sind. Das ist nur eine von vielen Anekdoten, welche Srbijanka mit der Regisseurin teilt. In Gesprächen wie auch Rückblicken wird der Film so zu einem Querschnitt der serbischen Geschichte der letzten Jahrzehnte.
Vor verschlossenen Türen
Nicht immer ist es ganz einfach, dem Film zu folgen. Während Teile des Geschehens auch hierzulande zur Allgemeinbildung gehören, etwa die Jugoslawienkriege und die Verbrechen von Slobodan Milošević, sind andere Punkte eher schwieriger einzuordnen. Da fehlte Turajlic vielleicht die Distanz, um ein fremdes Publikum richtig miteinbeziehen zu können. Insgesamt aber ist Die andere Seite von Allem eine spannende Geschichtsstunde, welche unser oft nur diffuses Verständnis für Serbien bzw. Jugoslawien gleich in mehrfacher Hinsicht konkretisiert. Aus Zahlen und nüchternen Fakten eine lebendige Geschichte macht, die den Blick für das Vergangene schärft, ebenso für die Gegenwart: Der Kampf für Gerechtigkeit hört niemals wirklich auf, weder für die betagte frühere Professorin, noch für die anderen Menschen. Denn da gibt es immer Türen, irgendwo im Land, irgendwo in den Leuten, die geöffnet werden müssen.
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