Viele Jahre sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergangen, die Menschen sind längst zur Tagesordnung übergegangen. Da erfährt der Holocaust-Überlebende Simon Wiesenthal (Karl Markovics), dass Franz Murer (Karl Fischer), der zwischen 1941 und 1943 viele Verbrechen an den Juden in Litauen begangen hat, noch immer frei ist. Zwar wurde er seinerzeit von einem russischen Gericht verurteilt, doch Murer musste nur einen Teil seiner Strafe absitzen – trotz einer anderslautenden Vereinbarung zwischen Russland und Österreich. Zwanzig Jahre nach seinen Gräueltaten wird ihm auch durch internationalen Druck doch noch der Prozess in seiner Heimat gemacht. Dutzende von Zeugen werden eingeflogen aus aller Welt, Opfer und Befürworter des vermeintlichen Verbrechers stehen sich vor den Augen aller im Gerichtssaal gegenüber.
Mehr als sieben Jahrzehnte ist es inzwischen her, dass der Schreckensherrschaft der Nazis ein Ende gesetzt wurde. Doch noch immer beschäftigt die Zeit Filmemacher aus aller Welt, sei es in Form von Kriegsfilmen, persönlichen Dramen oder auch Dokumentarfilmen, welche einzelne Aspekte beleuchten. So erschienen dieses Jahr gleich zwei österreichische Werke, welche sich mit der schwierigen, unbequemen Aufarbeitung eigener vergangener Verbrechen beschäftigte. Erst nahm sich die Dokumentation Waldheims Walzer den ehemaligen österreichischen UN-Generalsekretär und Bundespräsidenten Kurt Waldheim zur Brust, der seine NS-Vergangenheit leugnete. Nun folgt der Spielfilm Murer – Anatomie eines Prozesses, der ebenfalls von einem Österreicher erzählt, der im Nachhinein von allem nichts gewusst haben will.
Ein Massenmörder ohne Zweifel
Das war im Fall Murer besonders bitter: Der auch als „Schlächter von Vilnius“ bekannte Österreicher soll maßgeblich daran beteiligt gewesen sein, dass in der litauischen Hauptstadt die Zahl der Juden von 80.000 auf nur noch 600 sank. Die Verbrechen selbst werden dabei nicht gezeigt, der Film spielt – wie der Titel bereits verrät – ausschließlich während des Prozesses, der ihm 1963 gemacht wurde. Dass er schuldig ist, daran lässt Murer – Anatomie eines Prozesses jedoch keinen echten Zweifel. Zu eindeutig legt der Film anfangs fest, wer hier gut, wer böse ist. Murer muss gar nicht viel sagen oder tun, um in ihm das Monster zu sehen, als das er geschildert wird.
Stattdessen appelliert Regisseur und Drehbuchautor Christian Frosch an die Wut des Publikums, an dessen Empörung. Wie kann es sein, dass jemand, der so offensichtlich schuldig ist, frei herumlaufen darf? Die Antwort des Filmemachers ist nicht minder schrecklich: Er zeichnet das Bild eines Landes, das nicht nur viele Jahre nach dem Dritten Reich noch immer braunes Gedankengut in sich herumträgt, geradezu stolz, sich vor der eigenen Verantwortung drückt, sich sogar als reines Opfer der Deutschen positionieren will. Und als Opfer von internationalen Verschwörungen, die gemeinsam mit dreisten Lügen unbescholtenen Bürgern das Leben zur Hölle machen.
Verbindungen bis in die Gegenwart
Man braucht da nicht sonderlich viel Transferleistung, um dabei an neuerliche, bedenkliche Entwicklungen zu denken. Es mögen mehr als 50 Jahre seit dem Prozess vergangen sein, das Thema selbst bleibt aktuell, die Mechanismen funktionieren heute wie damals – inklusive eines Verweises auf die Lügenpresse. Die Aufarbeitung durch Frosch ist sicher nicht sonderlich oder um Differenziertheit bemüht, wirkungsvoll und spannend ist sie aber ohne Zweifel. Die Vielzahl an Zeugen und Beteiligten, mehrere Dutzend Figuren mischen hier mit, verschmelzen zu einem ausführlichen Mosaik des Grauens, wenn immer neue Details ans Tageslicht gelangen.
Und auch optisch tut Frosch eine ganze Menge dafür, dass der Film trotz einer Laufzeit von fast 140 Minuten und eines bekannten Ausganges nicht langweilig wird. Immer wieder kommen ungewöhnliche Perspektiven zum Einsatz, gerade zu Beginn auch viele Schnitte. So viele, dass einem schon mal etwas schwindlig werden kann, während man versucht, den Überblick über das Geschehen und die vielen Figuren zu behalten. Nach und nach werden aus den vielen Stimmen aber wenige, wird aus den Momentaufnahmen eine gesellschaftliche wie persönliche Aufarbeitung, die dem Thema zwar nichts Neues beizutragen hat, aber doch an dessen Wichtigkeit erinnert. Denn da sind noch mehr Schlächter da draußen, gekleidet in volksnaher Unschuld. Ihnen wird nur nicht immer der Prozess gemacht.
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