Was wäre, wenn alle Mieter Deutschlands auf einmal ihre Miete nicht mehr bezahlen würden? Eigentlich wollte Glocke (Matti Schmidt-Schaller) so richtig ein Zeichen setzen gegen die Mächtigen dieser Welt. Stattdessen landet er mächtig in der Scheiße, wortwörtlich: Mitten in seiner großen Rede bricht die Decke des Dixie-Klos unter ihm zusammen. Vor den Wachen gedemütigt und im Internet verspottet, schließt er sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die dem Aufruf eines Unbekannten in die Berge folgen. Ein Neuanfang, unabhängig von dem ganzen Kommerzmist, das wollen Judith (Milena Tscharntke), Steffi (Matilda Merkel), Elias (Tom Gronau) und Paule (Enno Trebs). Und auch Glocke. Aber das ist alles in der Theorie sehr viel einfacher, wie sie bald feststellen müssen. Vieles von dem, was sie sich ausgemalt haben, ist in der Realität ganz anders.
Es ist die Kehrseite einer Medaille, die da so schön glitzert, poliert von markigen Sprüchen und jeder Menge hippem Zeitgeist. Wenn wir durch Technik alle miteinander verknüpft sind, wir überall unser Zuhause in der Tasche haben, dann bedeutet das eben auch: Wir sind darin gefangen. Jeder Schritt von uns ist nachverfolgbar, unser Leben gehört allen, nur nicht uns selbst. Es fehlen die Rückzugspunkte, die uns erlauben, auch einfach mal nur wir selbst zu sein. Kein Wunder also, dass als Gegenbewegung eine Sehnsucht um sich greift, das alles einmal hinter sich zu lassen, den Reset-Knopf zu drücken und anschließend die Maschine wegzuwerfen. Oder zumindest abzuschalten.
Hauptsache weg!
Raus heißt dann auch der Film von Philipp Hirsch, der nach diversen Kurzfilmen hier sein Spielfilmdebüt als Regisseur und Co-Autor abgibt. Denn sie alle wollen raus, Glocke und der Rest, angetrieben von einer diffusen Unzufriedenheit mit der Welt. Angelockt von großen Reden, die sie selbst schwingen oder irgendwo aufgeschnappt haben. Es gelingt dem Drama dann auch sehr schön, gerade zu Beginn das Bild einer orientierungslosen Jugend aufzuzeigen, die sich in der Gesellschaft nicht mehr wiederfindet. Das geht mit Sprachfetzen, schnellen Schnitten und Voiceover-Konfusion einher, ein bisschen wie es Lomo – The Language of Many Others vor einigen Monaten demonstriert hat.
Anstatt diese Sorgen und Fragen weiter aufzudröseln wirkt es im Anschluss aber erst einmal so, als würde sich Hirsch über die Jugendlichen lustig machen wollen, die er zuvor so einfühlsam eingeführt hat. Zurück zur Natur wollen sie und tippen dabei eifrig in ihre Handys. Ihr Orientierungssinn ist ebenso kümmerlich wie ihre Fertigkeit, ein Zelt aufzubauen. Und wenn sie nach Hinweisen suchen, die sie zu der mysteriösen Hütte führen sollen, dann meint man, einer Gruppe von Geocachern zuzuschauen. Ein Aufbruch in eine neue Welt, die mehr einer Schnitzeljagd gleicht, die im Anschluss mit einer fetten Portion Pommes belohnt wird. Denn nach all der Anstrengend hat man sich das ja wohl verdient!
Viele Wege führen … wohin?
Und doch ist Raus kein zweites Wo die wilden Menschen jagen, der spöttische Ton mischt sich mit zahlreichen anderen. Da wäre das mitreißende Gefühl von Freiheit, wenn die Jugendlichen sich selbst in der Natur wiederfinden. Im kalten Fluss baden. Eine Sinnlichkeit entdecken, die in unserem Alltag längst verlorengegangen ist. Doch das geht auch immer mit einer Bedrohlichkeit einher: Was werden wir finden, wenn wir tatsächlich mal in uns hineinschauen? Der Film lässt dabei lange offen, in welche Richtung er sich weiterbewegen will. Wird die Gesellschaftskritik wieder deutlicher? Soll es lustig werden? Steht uns ein Survivalthriller bevor? Selbst Ausflüge ins Horrorgenre scheinen zum Greifen nahe, wenn sie durch den dunklen Wald stapfen, die Nerven nach und nach schön blank gelegt werden. Denn wo die Zivilisation weit entfernt ist, da brechen schon mal archaische Triebe hervor, jeder ist sich selbst der nächste.
Das kostet natürlich Kraft, sowohl die Jugendlichen wie auch den Film. Dem Drama, das auf den Hofer Filmtagen 2018 debütierte, geht ab der Hälfte etwas die Puste aus, während es selbst nach dem Weg sucht. Da sind dann zwar einige intensivere Auseinandersetzungen dabei, Raus wirkt aber müde, ohne echtes Thema, fesselt nicht mehr so wie noch zu Beginn. Zum Ende hin kommen sie aber doch zurück, die ganzen Fragen, Sinnkrisen wie auch Hoffnungsschimmer, dass es vielleicht wirklich eine Alternative gibt. Dass da irgendwo draußen eine Hütte auf uns wartet, in der wir uns selbst finden können. Oder das, was wir für unser selbst halten.
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