Sauvage

Sauvage

Sauvage
„Sauvage“ // Deutschland-Start: 29. November 2018 (Kino)

An Körperkontakten mangelt es Leo (Félix Maritaud) nicht gerade, schließlich verkauft der 22-Jährige in Straßburg seinen Körper an so ziemlich jeden Mann, der vorbeikommt. Seine Sehnsucht nach Nähe wird dabei jedoch nicht gestillt. Dabei gibt es sogar jemanden, für den sein Herz schlägt: Ahd (Eric Bernard). Doch der will von Intimität nichts wissen. Für ihn ist Sex mit Männern ein reines Geschäft, eigentlich steht er ja auf Frauen. Aber auch er träumt von einem reichen Gönner, der für ihn sorgt und dabei hilft, von der Straße wegzukommen. Die komplizierte Freundschaft zu dem schwer verliebten Leo ist ihm dabei nur im Weg.

„Wild“ heißt der französische Originaltitel ins Deutsche übersetzt. Ein Titel, der einerseits sehr passend ist, irgendwo aber auch nicht. Denn der Film erzählt von einem Menschen, der es sich in seinem Lebensstil gemütlich gemacht hat, obwohl er dort eigentlich nicht hingehört. Schön ist der Lebensstil sicher nicht. Das Leben auf der Straße, die ständige Nähe zu Drogen, der Verkauf des eigenen Körpers – das ist alles nicht unbedingt erstrebenswert. Vom rauen Umgang und der kriminellen Energie, die manche hier an den Tag legen, ganz zu schweigen.

Viele Wege führen auf die Straße
Und doch: Regisseur und Drehbuchautor Camille Vidal-Naquet verurteilt in seinem Langfilmdebüt nicht. Weder romantisiert er das Leben der Sexarbeiter, noch verteufelt er es, macht kein triefendes Betroffenheitskino daraus. Leo und die anderen prostituieren sich, weil sie es müssen, weil sie es können, weil sie irgendetwas brauchen, das ihr Leben finanziert. Vielleicht hätten sie etwas anders machen können, es besser machen können. Vielleicht aber auch nicht, der Film schweigt sich darüber aus, wer wie dort gelandet ist, wo er nun ist.

Sauvage, das auf der Semaine de la Critique in Cannes 2018 debütierte, verfolgt dabei ein eigenwilliges Spiel aus Distanz und Nähe. Dass Leo beispielsweise Leo heißt, das wissen Zuschauer, die sich über den Film informieren. Der Film selbst verrät es nicht, gibt auch den vielen anderen keinen Namen. Auch für biografische Details ist kein Platz in dem Drama. Leo ist 22. Das wissen wir, weil wir es bei einem Arztbesuch erfahren. Er kann nicht gut lesen, wie er einem Freier irgendwann verrät, auch das lässt Schlüsse zu. Aber es bleibt bei diesen kleinen Details, winzigen Brocken, die wir unterwegs auflesen, beiläufig, zufällig, die zusammen ein gebrochenes Porträt eines gebrochenen jungen Mannes ergeben.

So nah, dass es weh tut
Gleichzeitig geht Vidal-Naquet aber auch ganz nah dran. Einige Stellen sind so explizit und ungeschönt, dass man meinen könnte, hier einen Dokumentarfilm zu sehen. Stellen voller Schmerz und Verbitterung, voller Angst. Da darf dann auch schon mal Blut fließen, wenn nicht gerade psychische Gewalt angesagt ist. Und dazwischen: Leo. Ein junger Mann, der in einem zynischen, letztendlich menschenfeindlichen Feld unterwegs ist und dabei auf eine rührend weltfremde Weise noch an die große Liebe glaubt. Wenn er mit seinen großen Rehaugen durch die Gegend läuft, Umarmungen verteilt und sucht, dann sorgt das für Momente, die warmherzig und doch tieftraurig sind.

Eine durchgängige Geschichte oder eine Form von Entwicklung sollte man hier jedoch besser nicht erwarten. Vielmehr setzt sich Sauvage aus lauter Einzelimpressionen zusammen. Manche sind chronologisch einzuordnen, andere nicht. Der Besuch bei einer Ärztin wechselt sich mit schmerzhaften Begegnungen ab, zärtliche Intimität, die inmitten der Brutalität entsteht, so als wären verschiedene Filme zusammengeschnitten worden. Und diese Ambivalenz hält der Film bis zum Schluss bei, spielt Freiheit und Geborgenheit gegeneinander aus, setzt selbst hinter Happy Ends noch ein Fragezeichen. Und man ahnt, dass trotz des zuversichtlich lächelnden Gesichts von Leo das wilde Leben noch viele weitere Opfer kosten wird.



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Das Leben kann so schön sein ... und so furchtbar. In „Sauvage“ folgen wir einem jungen Stricher, der in einer zynischen, menschenfeindlichen Welt noch immer nach Intimität sucht und teilweise auch findet. Das ist gleichzeitig sehr nah an den Figuren und distanziert, romantisiert das Leben auf der Straße nicht und begegnet dem Protagonisten doch voll Wärme.
7
von 10