Bauchschmerzen, begründet Sofia (Maha Alemi), als sie das Zimmer verlässt und sich in die Küche zurückzieht. Doch ihre Cousine Lena (Sarah Perles), die mit dem Rest der Familie zusammengekommen ist, hat da ihre Zweifel. Schnell wird ihr klar, dass Sofia schwanger ist, mehr noch, die Geburt unmittelbar bevorsteht. Ein Grund zur Freude ist das nicht, schließlich ist außerehelicher Sex in Marokko streng verboten und wird mit Gefängnis bestraft. Zwar gelingt es der Medizinstudentin dank ihrer Beziehungen, unbemerkt das Kind ihrer Cousine auf die Welt zu bringen. Doch damit fangen die Probleme erst an, denn nun braucht es dringend einen Vater.
Die Vorstellung erscheint uns ja gerne mal absurd: Wie kann ein Mensch nicht merken, dass er schwanger ist? Und doch kommt dieses Phänomen immer mal wieder vor, 270 Frauen sollen in Deutschland erst durch die Geburt von ihrem Kind erfahren. Sofia kümmert sich jedoch wenig um diese kuriose Erfahrung. Der Film hält sich auch nicht lange mit Überlegungen auf, ob die Titelfigur einfach nur alles verdrängt hat, es nicht wahrhaben wollte oder tatsächlich ihren beträchtlichen Bauch nicht sehen, das Kind darin nicht fühlen konnte.
Gefangen in alten Traditionen
Stattdessen nutzt die marokkanische Regisseurin und Drehbuchautorin Meryem Benm’Barek diesen Umstand, um einen Blick auf ihr Heimatland zu werfen. Es ist ein Blick, der nur wenig Schmeichelhaftes zu Tage fördert. Das nordafrikanische Land mag durch seine engen Verbindungen zu Frankreich einiges von der westlichen Kultur aufgeschnappt und einverleibt haben. An anderen Stellen hält man es dann aber doch lieber mit den alten Traditionen. Der erste Gedanke der Eltern, die später doch noch von ihrem Unglück erfahren, gilt dann auch weder Sofia noch dem Kind. Er gilt den Nachbarn. Den Bekannten. Was sollen die denn jetzt alle von uns denken? Wir können wir unsere Ehre wiederherstellen?
Ganz fern ist dieser Gedanken auch dem hiesigen Publikum nicht, vor einigen Jahrzehnten wäre ein außereheliches Kind ebenfalls ein Skandal gewesen. Sofia ist aber nicht allein ein Film über altmodische Werte. Es ist auch ein Film, der stark mit dem Kontrast des äußeren Anscheins und der inneren Wahrheit hantiert. So ist die Welt in Marokko wieder in Ordnung, wenn nachträglich ein Vater mittels Heirat dem Kind eine Daseinsberechtigung gibt. Ob das Kind dadurch in unglücklichen Umständen aufwächst, ist sekundär, die Gefühle zwischen den Eltern ohnehin. Sie habe auch nicht aus Liebe geheiratet, sagt an einer Stelle die Mutter von Lena.
Ein Abgrund mit Überraschungen
Sofia, das 2018 in der Nebensektion „Un Certain Regard“ der Filmfestspiele von Cannes debütierte, bleibt an der Stelle jedoch nicht stehen. Der Zynismus, den Benm’Barek offenbart, kennt noch mehr Abgründe. Einer davon wird erst sehr spät verraten, was irgendwo schade ist. Denn was eine interessante Schattierung in die Schwarzweißzeichnung gebracht hätte, verkommt auf diese Weise zu einem etwas ruppigen Twist. So als hätte M. Night Shyamalan das Genrekino hinter sich gelassen und sich ausnahmsweise mal an einem Sozialdrama versucht.
Der Film ist aber auch vorher schon stark gewesen, sowohl als Porträt der marokkanischen Gesellschaft wie auch als persönliches Drama. Er braucht dafür noch nicht einmal eine sympathische Hauptfigur. Denn das ist Sofia eher nicht – sofern man ihr überhaupt Gefühle entgegenbringt. Selbstverständlich ist das nicht, denn die junge Mutter ist auf eine bemerkenswerte Weise teilnahmslos, scheint nie ganz da zu sein, Teil dieser Welt zu sein. Was auch daran liegt, dass sie selten spricht. Für einen Film diese Art ist es mindestens ungewöhnlich, auf eine solche Protagonistin zu setzen. Aber es zeichnet eben auch das Spielfilmdebüt der Marokkanerin aus, dass sie das schwierige Schicksal nicht für billigen Kitsch verheizt, sondern uns aufzeigt, wie viel bitterer und hinterhältiger das Leben da draußen manchmal sein kann, als uns lieb ist.
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