Genug ist genug: Auch wenn Netflix zwischenzeitlich selbstbewusst behauptete, Kritiker wären ihnen egal, die würde überhaupt nicht Hits wie Bright verstehen, so ein bisschen Anerkennung erhoffte sich der Streamingdienst dann doch wohl. Und so gab es, als Gegenbewegung zu der vielen Häme, die es für die Original-Filme von Netflix üblicherweise setzte, eine regelrechte Qualitätsoffensive mit ganz großen Namen. Pünktlich zum Beginn der Festivalsaison 2018 buhlten die Amerikaner unter anderem mit dem legendären letzten Film von Orson Wells (The Other Side of the Wind) sowie neuen Werken der Kritikerlieblinge Alfonso Cuarón (Roma), Paul Greengrass (22. Juli), David Mackenzie (Outlaw King) und Jeremy Saulnier (Wolfsnächte) um die Gunst der naserümpfenden Rezensenten.
Teil dieser Offensive war auch The Ballad of Buster Scruggs, das im offiziellen Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig gezeigt wurde. Niemand Geringeres als die Brüder Joel und Ethan Coen (No Country for Old Men) gaben sich hier die Ehre und nahmen uns mit in einen Wilden Westen, der uns gleichzeitig vertraut und doch auch fremd ist. Ein Western, der auch deshalb wenig fassbar ist, weil er sich aus vielen Facetten zusammensetzt. Sechs Geschichten haben die beiden hier verfasst und inszeniert. Sechs Geschichten voller Cowboyhüte, voller Indianer und Revolver, der Suche nach Gold. Sechs Geschichten, die sich teils ähneln, teils völlig unterschiedlich sind.
Der Tod kann lustig sein
Die ersten beiden Episoden wecken noch den Eindruck, die Coens hätten hier eine reinrassige Westernkomödie abgedreht. Die erste zeigt Tim Blake Nelson als titelgebenden Buster Scruggs, der ebenso begabt als Sänger wie als Pistolero ist. Der Spaß dieser Farce liegt in dem Kontrast zwischen dem blutigen Treiben und der geradezu offensiven Fröhlichkeit des komplett in Weiß gekleideten Scruggs. In Near Algodones ist es James Franco, der uns zurück nimmt in den Wilden Westen: Er spielt darin einen Bankräuber, dessen geplanter Überfall auf brutal komische Weise danebengeht.
Anschließend wird es jedoch deutlich ernster. Meal Ticket erzählt die melancholische Geschichte eines Impresarios (Liam Neeson), der zusammen mit dem arm- und beinlosen Harris (Harry Melling) unterwegs ist. Die beiden ziehen von Ort zu Ort, geben dort Gedichte wieder, rezitieren Shakespeare, während die Zuschauerzahlen zunehmend geringer werden. Gegen Ende hin wird es gar richtig bitter, der Weg dorthin zieht sich jedoch beträchtlich. Gleiches gilt für den vierten Kurzfilm All Gold Canyon, in dem Tom Waits einen Goldsucher spielt. Die auf einer Geschichte von Jack London (Die Abenteuer von Wolfsblut) basierende Episode berichtet von dem skrupellosen Umgang der Menschen mit der Natur und einander, Zivilisationskritik im Westernmantel, wenn man so will.
Zusammen ist man mehr allein
Die fünfte Geschichte The Gal Who Got Rattled ist die emotionalste, wenn Zoe Kazan eine Frau spielt, die nach dem Tod ihres Bruders als Teil einer Karawane durch das Land zieht und dabei das Versprechen von Glück findet. Und auch in The Mortal Remains folgen wir einer Gruppe, die gerade unterwegs ist. Diesmal ist es eine kleine Kutsche, welche die unterschiedlichsten Leute vereint. Ein unheimliches Kammerspiel auf vier Rädern, in dem kräftig diskutiert, wenn nicht gar gestritten wird, das aber erst zum Schluss verrät, wovon es eigentlich handelt.
Die Abwechslung innerhalb der etwas mehr als zwei Stunden ist also beträchtlich, ebenso jedoch auch die Schwankungen des Unterhaltungsfaktors. Vor allem das sehr langsame Tempo, welches The Ballad of Buster Scruggs schon früh bestimmt, sorgt an vielen Stellen für wenig Begeisterung. Obwohl die sechs Episoden für sich genommen recht kurz sind, fühlen sie sich teilweise viel länger an, ohne dass man für die Wartezeit belohnt würde. Immerhin: Zu sehen gibt es währenddessen mehr als genug. Nicht nur, dass die Coens Massen an bekannten Darstellern um sich scharen. Sie verwöhnen das Publikum auch mit wunderbaren Aufnahmen, die nicht aus dieser Welt zu sein scheinen. Die auch wieder die Diskussion lostreten dürften, dass Netflix zu viele Filme aus dem Kino klaut. Rein von den Bildern her gehört die Westenanthologie auch eindeutig dorthin, die Wechsel von sonnendurchfluteten Klischees und düstern Abgründen sind fantastisch. Allzu viele Zuschauer hätte es dort aber sicher nicht gefunden. Der Wechsel von Farce zu Zivilisationskritik zu bitterem Drama ist zu stark, Crowdpleaser nehmen neben spröden Balladen Platz, es fehlt eine eindeutige Identität.
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