Wenn Roos (Rifka Lodeizen) bei ihrer Mutter Louise (Elsie de Brauw) vorbeischaut, dann sind diese Besuche eher Teil eines Pflichtprogramms, weniger Ausdruck einer innigen Verbindung. Zu entfremdet sind sich die beiden, waren das schon, als Roos noch ein Kind war. Inzwischen lebt Louise, eine früher gefeierte Pianistin, in Norwegen, zusammen mit Bengt (Marcus Hanssen), dem sehr viel jüngeren Halbbruder von Roos, die als Fotografin um die Welt reist. Ihre eigene Reise wird jedoch bald ein Ende nehmen: Roos ist schwer krank, wie viel Zeit ihr bleibt, weiß sie nicht. Ebenso wenig weiß sie, wie sie die schreckliche Nachricht mit ihrer Familie teilen soll.
Die Situation ist so ungewöhnlich nicht, zumindest nicht für einen Film. Ein Trauerfall bringt eine Familie wieder zusammen, die Reise in die Heimat bedeutet gleichzeitig auch eine Reise in die Vergangenheit, wo viele unausgesprochene Konflikte warten. Grundsätzlich gilt das auch für Das Entschwinden, mit dem Unterschied, dass der Trauerfall hier erst noch bevorsteht. Es geht hier also vielmehr um eine Aussöhnung, um einen Abschluss, so lange die Zeit noch dafür reicht. Eine ähnliche Konstellation, auch von den Figuren her, wie es das spanische Drama Sunday’s Illness hatte.
Zwischen zwei Welten
Und doch geht Das Entschwinden einen etwas anderen Weg. Zunächst sticht dort die Sprache hervor: Das Drama, welches auf dem Toronto International Film Festival 2017 gezeigt wurde, ist eine niederländisch-norwegische Produktion. Die Familie von Roos stammte auch aus den Niederlanden, Louise zog später, nach der Trennung vermutlich, nach Norwegen. Dies führt dazu, dass Roos und Louise sich immer in ihrer alten Sprache unterhalten. Sobald eine neue Person hinzukommt, selbst Bengt, wird auf Englisch weitergesprochen.
Auf eine gewisse Weise ist das natürlich ironisch, dass ausgerechnet die beiden in einer eigenen Sprache kommunizieren, die sich nichts zu sagen haben. Und doch ist es eines der vielen Details eines Films, der im Groben sehr gewöhnlich wirkt und nur im Kleinen seine Klasse zeigt. Immer wieder gibt es flüchtige Momente, die auf mehr hinweisen, kurze Andeutungen und symbolhafte Bilder. Zum Ende hin übertreibt es das Drama damit, wenn eine schon recht offensive Metapher ins Spiel kommt, die es in der Deutlichkeit nicht gebraucht hätte.
Das Geheimnis einer kaputten Beziehung
Ansonsten ist Das Verschwinden nämlich ein sehr zurückhaltender Film, der sich erstaunlich wenig in die Karten schauen lässt. Man muss das nicht gleich Mystery nennen, wie es auf imdb der Fall ist. Aber es ist schon erstaunlich, wie vieles hier nicht ausformuliert wird. Der Grund für die Entfremdung zwischen Mutter und Tochter kommt erst sehr spät zur Sprache, wird auch nicht völlig durchbuchstabiert. Andere Teile der Geschichten werden überhaupt nicht angesprochen. Teilweise lassen sich diese Leerstellen selbst füllen, beispielsweise Roos’ Vorgeschichte mit Johnny (Jakob Oftebro). Anderes muss man aufgeben, etwa die Frage, was eigentlich mit Bengts Vater ist.
Anstatt diese Fragen zu beantworten oder manche Szenen zum Zwecke des Verständnisses auszubauen, gibt es immer wieder schwelgerische Aufnahmen der Eislandschaft. Das passt zu dem Titel, denn in Das Entschwinden geht es gleich in mehrfacher Hinsicht darum, wie etwas verschwindet. Etwas nicht greifbar ist. Die eigenartige Musik, die manchmal ertönt. Die seltsamen Geräusche, die Bengt aufnimmt. Und natürlich die Gefühle, die sich in der Weite der Landschaft, der Sehnsucht nach Nähe und in der Stille verlaufen, oft nicht wissen, wo sie hin sollen. Die deshalb ihren eigenen Ausgang suchen, suchen müssen, keine Erfüllung in dem Kitsch anderer Familientragödien finden. All das macht das Drama trotz der bekannten Geschichte zu einem kleinen Geheimtipp, den man am besten auf der großen Leinwand genießen sollte.
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