Der Schock ist groß bei den Anwesenden, aber auch beim Umfeld: Im einen Moment läuft der Lehrer der Hochbegabtenklasse noch durch die Reihen, schaut den Schülern über die Schulter, prüft, dass alles in Ordnung ist. Im nächsten öffnet er das Fenster und springt hinaus. Der 40-jährige Ersatzlehrer Pierre Hoffman (Laurent Lafitte) soll sich in der Folge um die Jugendlichen kümmern, sowohl in Hinsicht auf den Lehrplan wie auch die seelische Verfassung. Doch das ist einfacher gesagt denn getan. Nicht nur dass sie vom Stoff her schon deutlich weiter sind, sie begegnen dem neuen Lehrer auch mit viel Misstrauen, wenn nicht sogar Feindseligkeit. Vor allem die von Apolline (Luàna Bajrami) und Dimitri (Victor Bonnel) angeführte Clique macht ihm das Leben sehr schwer, verhält sich dabei auch noch sehr eigenartig. Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen, das wird Pierre schnell klar. Aber was?
Das ist eine Frage, die auch dem Publikum sehr schnell im Kopf herumschwirren wird. Ist erst einmal der Schock über den plötzlichen Sprung aus dem Fenster verarbeitet, beginnt die Spurensuche. School’s Out befasst sich dabei erstaunlich wenig mit dem vorherigen Lehrer. Auch wenn der Verdacht natürlich naheliegt, dass der Suizid kein Zufall ist, sondern mit der Situation in der Klasse zusammenhängt – warum sonst sich während des Unterrichts umbringen? –, der Film verfolgt diese Theorie praktisch gar nicht. Und das obwohl die Schüler von Anfang an eine sehr unheimliche Aura ausstrahlen, eine Mischung aus Shining und Das Dorf der Verdammten.
Fragen über Fragen
Ohnehin ist die Adaption von Christophe Duffoses Roman kein Film der großen Worte und Erklärungen. Vielmehr ist das zweite Werk von Regisseur und Co-Autor Sébastien Marnier ein klassischer Mystery-Thriller, der sich lieber mit Andeutungen und Rätseln beschäftigt, weniger mit deren Auflösung. Viele der Handlungsstränge enden daher im Nirgendwo, manches wird nie zufriedenstellend erklärt. Das tun andere Filme natürlich auch. Wo meistens aber einzelne Puzzleteile wenn schon kein schlüssiges Bild, dann zumindest einen groben Anhaltspunkt ergeben, da bleiben sie hier Puzzleteile. Manchmal ist man nicht einmal sicher, ob sie überhaupt zur selben Packung gehören.
Das soll aber nicht bedeuten, dass School’s Out, das auf den Filmfestspielen von Venedig 2018 Premiere feierte, nichts zu sagen hätte. Vielmehr zeichnet der Thriller das Bild einer Jugend, die zwischen den großen Versprechungen und den ebenso großen Erwartungen verlorengegangen ist. Was tun in einer Welt, in der dir als Teil einer Elite angeblich alle Türen offenstehen, die in Wahrheit aber längst verbaut ist? In der es keine wirkliche Zukunft mehr gibt, weil sich nie einer dafür interessiert hat?
Zwischen Ratlosigkeit und Trauer
So sehr der Film damit beschäftigt ist, Spannung aufzubauen und die Zuschauer mit falschen Fährten an der Nase herumzuführen, so sehr ist School’s Out doch auch das traurige Porträt einer verlorenen Generation. Von Menschen, die schlauer sind als alle anderen und dennoch nicht wissen, was sie mit all dem anfangen sollen. Das ist psychologisch vielleicht nicht immer befriedigend, umso mehr da die Jugendlichen nie wirkliche Persönlichkeiten zeigen. Sie gehen auf in ihrer Clique, in einer Gemeinschaft, die keinen Zusammenhalt mehr findet. Ihre Namen sind das einzige, was von ihnen als Individuum zurückbleibt.
Und natürlich darf man hier fragen, ob das Ganze nicht noch etwas konsequenter hätte sein können. Manche der Mystery-Elemente sind zu offensichtlich allein der Atmosphäre wegen eingebaut, nicht weil es sie inhaltlich gebraucht hätte. Aber es ist ein sehenswerter Film, den Marnier uns da beschert hat. Ein stimmungsvoller, faszinierend-bedrückender Film, der begleitet von dem Score der französischen Elektro-Popper Zombie Zombie eine erschreckend aktuelle Welt zeigt, die gleichzeitig aber irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Smartphones treffen auf alte DVDs, eine von Gewalt abgestumpfte Gesellschaft auf die Sehnsucht, einen Platz zu haben. Erwachsene auf Jugendliche, die sich nichts mehr zu sagen haben, weil irgendwo in dem Alltag etwas kaputt gegangen ist. So kaputt, dass einem nur noch der Sprung aus dem Fenster reicht.
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