Von jemandem Abschied zu nehmen, der einem nahesteht, das ist nie eine einfache Aufgabe. Wenn der Tod aber so früh, so unnütz und so unerklärlich eintritt wie bei Chris Würtenberg, dann kann einen das auch Jahrzehnte später verfolgen. Eine, die das Thema bis heute nie ganz los geworden ist, ist Anja Kofmel. Die ist von Haus aus Filmemacherin, studierte Animation, folgt in ihrem Langfilmdebüt Chris the Swiss zumindest teilweise den Spuren ihres Cousins. Der war Reporter, immer wieder unterwegs in Kriegsgebieten, um von der Front zu berichten. In einem solchen starb er auch, genauer in Jugoslawien, im Jahr 1992. Nicht der Krieg selbst kostete ihn das Leben. Er wurde erwürgt. Von wem und warum, das ist bis heute nicht geklärt.
Kofmel wollte es wissen, denkt noch immer an ihren älteren Cousin, zu dem sie als Kind aufblickte. Und auch wenn wir Würtenberg nicht persönlich kennenlernen, er nur in Archivaufnahmen und Interviews mit Verwandten und Zeitgenossen auftritt, es fällt nicht schwer, die Faszination des Schweizers zu spüren, der mit 27 Jahren seinem Durst nach Wissen und Aufregung zum Opfer fiel. Denn auch aus zweiter Hand bleibt viel von seinem Charme, der jugendlichen Energie, die den gutaussehenden, schelmisch lächelnden Journalisten durch die ganze Welt reisen ließ.
Ein Mann, viele Geschichten
Chris the Swiss, das während der Semaine de la Critique in Cannes 2018 Premiere feierte, ist dabei ein inhaltlich fragmentarisches Werk. Auf der einen Seite zeichnet Kofmel mithilfe der Familie das Bild eines Mannes, dessen Tod ein Loch hinterlassen hat, welches selbst ein Vierteljahrhundert später niemand füllen konnte. Besonders schmerzhaft ist in dem Zusammenhang der Auftritt des Bruders, dessen Wut über die Unverantwortlichkeit von Chris bis heute an ihm nagt. Der auch mit Therapie nicht überwinden konnte, dass und warum Chris nicht mehr da sein soll. Und auch die Mutter rührt mit ihrer Sehnsucht, noch einmal mit ihrem Sohn herumalbern zu können, auf eine Weise, die sonst keiner konnte.
Doch dieser persönliche Zugang zum Thema vermischt sich mit einem universelleren Thema. Was genau fiel eigentlich damals in Jugoslawien vor? Und was veranlasste Männer dazu, sich auf einen Krieg einzulassen, der nicht mal der ihre war? Bei ihren Recherchen stößt Kofmel auf obskure Söldner, fragwürdige Aktionen der Kirche, sogar politische Attentate schleichen in den Schatten umher. Wirkliche Klarheit erlangt der Film dabei nicht, dafür ist dann doch zu viel verlorengegangen, bleibt zu viel Vermutung. Das wird Verschwörungstheoretiker freuen, die an jeder Ecke geheime Verbindungen verdächtigen. Wer definitive Antworten braucht, der ist hier hingegen im falschen Film.
Ausdrucksstarke Animationssequenzen
Und doch ist diese Mischung aus Biografie, Kriegsgeschichte und ganz allgemeinen Überlegungen ein sehr spannender Film, der zudem auf eine kunstvolle Weise mit den Bildern verschmilzt. Kofmel nutzt ihre Erfahrungen im Bereich Animation, um reguläre Dokumentarmittel – Archivaufnahmen und Interviews – zu ergänzen. Komplett in Schwarzweiß sind die Sequenzen gehalten, mit ein bisschen Grau drin, in denen sie Chris zum Leben erweckt. Szenen, in denen das Fiktive und das Reale nicht voneinander zu trennen sind.
Die Zeichnungen sind simpel, die Animationen etwas rau. Aber sind sie von einer unglaublichen Ausdrucksstärke. Teil kindliche Überhöhung, Teil blanker Horror mit surrealen Anklängen sind die Bilder ebenso unvergesslich wie der Held der Geschichte. Ein Mann, der über anderthalb Stunden präsent ist, in jedem Wort zu spüren. Und der doch ein Phantom bleibt, ein leichter Schmerz, eine vorüberstreichende Wehmut, von der man nie genau sagen kann, ob man sie beerdigen oder an ihr festhalten will.
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