Das hatten sich die Frauen in dem kleinen südfranzösischen Dorf auch nicht träumen lassen: Als sich die Männer im Jahr 1851 zu einem Aufstand gegen Napoléon entschließen, werden sie allesamt verhaftet. Zuerst ist die Hoffnung der Frauen groß, dass sie irgendwann wieder zurückkommen. Doch als dies nicht geschieht, müssen sie sich wohl oder übel selbst helfen. Während sie tatsächlich lernen, sich selbst zu versorgen und komplett autark von männlicher Hilfe zu sein, drängt sich aber eine andere Frage in den Vordergrund: Wie soll das Dorf in Zukunft überstehen? Aus einer Laune heraus beschließen sie daher, den nächstbesten Mann, der vorbeikommt, zum Zeuger sämtlicher Nachkommen zu ernennen. Bis die junge Bäuerin Violette Ailhaud (Pauline Burlet) dem Fremden Jean (Alban Lenoir) begegnet und sich in ihn verliebt …
Die Geschichte ist so irrsinnig, man könnte sie als Grundlage einer Komödie vermuten: Eine Gruppe von Frauen will das Überleben eines Dorfes sichern, indem es sich den einzigen Mann gefügig macht, der hier vorbeikommt. Tatsächlich basiert Das Mädchen, das lesen konnte aber auf einer wahren Geschichte, genauer dem autobiografischen Text von Violette Ailhaud. Den hatte sie Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben, um ihre Erfahrungen darin festzuhalten, jedoch testamentarisch verfügt, dass er erst nach dem Tod aller Betroffenen veröffentlicht werden darf. Am Ende waren es rund 100 Jahre, bis ihre Nachkommen von den Begebenheiten erfahren durften.
Der Traum vom Glück
Es ist aber nicht allein die Kuriosität, die den Film zu etwas Besonderem macht. Eine andere versteckt sich in dem deutschen Titel. Wo das französische Original noch Jean in den Fokus rückte, den „Sämann“ (Le Semeur), da wird bei uns hervorgehoben, dass Violette schreiben konnte. Denn das war seinerzeit eine absolute Ausnahmeerscheinung, zumindest bei der ländlichen Bevölkerung. Wenn sie und der hübsche Fremde sich näherkommen, dann auch nicht aufgrund einfacher physischer Anziehung. Vielmehr begegnen sich hier zwei Träumer, die im anderen jeweils einen Seelenverwandten gefunden haben.
Teilweise ist die Stimmung von Das Mädchen, das lesen konnte dann auch sehr romantisch, unterstützt durch die vielen idyllischen Aufnahmen aus Südfrankreich. Wie sie hier alle gemeinsam mit der Sense unterwegs sind, das klare Wasser des Flusses genießen oder sich unter den Bäumen tummeln, das sieht dann schon fast wie ein Imagevideo für einen kleinen Bauernhofurlaub aus. Aber eben nur fast. Denn da wäre beispielsweise auch das eigentümliche 1,33:1-Format, das heute kaum noch zum Einsatz kommt und sehr viel schmäler ist, als wir es gewohnt sind, nahezu quadratisch.
Raus aus der Enge
Das erinnert fast zwangsweise an Ein Leben, ein weiteres französisches Historiendrama, das kürzlich in den deutschen Kinos lief. Auch damals sorgte dieses Format von einst für ein recht beklemmendes Gefühl, als wären die Figuren darin eingesperrt. Das passt dann auch bei Das Mädchen, das lesen konnte sehr gut, schließlich geht es hier um das Thema, wie Frauen sich aus ihrem alten Leben befreien. Befreien müssen. Wo kein Mann da ist, um die Arbeit zu machen, da muss eben das „schwache“ Geschlecht ran. Und wie die Bäuerinnen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, das ist trotz einer über 160 Jahre alten Geschichte irgendwie sehr aktuell.
Gleichzeitig ist Das Mädchen, das lesen konnte aber natürlich auch irgendwo tragisch. Die reizenden Bilder und die neckischen Diskussionen um Massenschwängerung zum Trotz, der Film erzählt auch die Geschichte von Frauen, die ihre Männer verloren haben, ihre Väter und Söhne. Viel erfahren wir nicht über sie, von Violette einmal abgesehen bleiben sie alle Randgestalten, die sich zwar einmischen, dabei aber nur wenig Profil erhalten. Als Porträt eines Dorfes funktioniert das Drama also kaum, dafür bot die dünne, nur wenige Seiten lange Vorlage von Ailhaud einfach nicht genügend Stoff. Aber auch so ist der französische Film sehenswert, ist gleichzeitig historisch und relevant, verträumt und bitter, unterhaltsam und romantisch.
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