Die Zukunft sieht für Jonas Widmer (Max Hubacher) ziemlich gut aus. Er ist ein talentierter Langstreckenläufer, sogar eine Teilnahme bei den Olympischen Spielen steht inzwischen im Raum. Er ist glücklich mit seiner Freundin Simona (Annina Euling) liiert, die beiden planen sogar schon den Einzug in eine eigene Wohnung. Und auch seine Ausbildung zum Koch, die er parallel zum Sport verfolgt, läuft prima. Es ist vielmehr die Vergangenheit, die dem jungen Schweizer zu schaffen macht, allen voran der Selbstmord seines Bruders Philipp (Saladin Dellers). Zudem fällt es Jonas immer schwerer, seine Aggressionen im Zaum halten, eine nächtliche Begegnung ist der Auftakt zu einem gefährlichen Doppelleben.
In Deutschland dürfte der dem Film als Vorbild dienende Fall um einen Läufer, der ein Doppelleben führte, eher wenigen bekannt sein, in der Schweiz war er damals jedoch in allen Nachrichten. Kein Wunder, war er doch ebenso faszinierend wie erschreckend, dabei auch tragisch. Zwei Kinder, die verwahrlost aufgefunden wurden und in ihrer Entwicklung stark beeinträchtigt waren. Der eine fand später Halt im Sport, schaffte es damit seine Aggressionen besser unter Kontrolle zu bekommen. Doch später entglitt sie ihm immer weiter, wohl auch weil sein Bruder als stabilisierender Faktor in seinem Leben fehlte.
Die vergebliche Frage nach dem warum
Regisseur und Co-Autor Hannes Baumgartner behält diese grundsätzliche Geschichte bei, änderte jedoch alle Namen und brachte sich auch beim Drumherum noch ein. Was der Schweizer dabei jedoch nicht tat: Er bietet keine Erklärungen. Warum Jonas später zu solchen Gewalttaten neigt, warum er überhaupt diese dunkle Seite in sich hatte, das verschweigt der Film. Denn bis heute bleibt dies ein Rätsel. An einzelnen Stellen bietet Der Läufer zwar kleine Hinweise und Puzzleteile. Doch die ergeben zusammen kein klares Bild, was genau eigentlich in dem jungen Mann kaputt gegangen ist.
Das macht den Film gleich doppelt zu einer Herausforderung für das Publikum. Nicht nur dass der Wandel ziemlich unheimlich ist, der eigentlich sympathische Jonas zu einer erschreckenden Gestalt wird, die in ihrer eigenen Welt lebt. Wir sind zudem gezwungen, diesem Wandel hilflos zuzusehen, vergleichbar zu dem US-amerikanischen My Friend Dahmer. An mehreren Stellen wünscht man sich einzugreifen, denkt, dass das Unheil noch aufzuhalten ist. Doch Der Läufer tut einem diesen Gefallen nicht, lässt einen zum Schluss auch noch mit den Scherben allein.
Ein Drama ohne großes Drama
Dass das Schweizer Drama, welches im Rahmen des Max Ophüls Preis Filmfests 2019 erstmals in Deutschland zu sehen ist, auf die Folter spannt, hängt aber auch mit der betont schmucklosen Inszenierung zusammen. Baumgartner verzichtet völlig auf Musik, lässt sich bis auf wenige Momente nicht zu einer Dramatisierung hinreißen. Das Geschehen wird zwar immer mal wieder durch Flashbacks unterbrochen. Doch das ist aber schon der Gipfel des narrativen Eingreifens. Stattdessen verlässt er sich völlig auf die Bilder. Und auf Max Hubacher natürlich.
Der Schweizer Shootingstar war im vergangenen Jahr gleich zweimal auf der deutschen Leinwand zu sehen, jeweils mit Stoffen, die an die Nieren gingen: als barbarischer Kriegsverbrecher im grotesken Der Hauptmann und als schwuler Fußballer in Mario, der seine Gefühle verbergen muss. Als Läufer, der eine verborgene Seite in sich trägt, fügt er seiner sehr vorzeigbaren Karriere ein weiteres Empfehlungsschreiben hinzu. Einen weiteren unbequemen Film, der verdeutlicht, dass er derzeit einer der spannendsten und vielversprechendsten Nachwuchsdarsteller der Eidgenossen ist, wie er hier Verletzlichkeit und rohe Gewalt in sich vereint.
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