Das war’s, Kristin Dibelius (Katja Riemann) ist ihren Job los. Einen neuen könnte sie haben, in Frankfurt. Doch umziehen möchte sie nicht, wegen ihres Sohnes David (Nils Rovira-Munroz). Offiziell ist der in den USA und studiert dort. In Wahrheit ist er aber zu Hause, wo er sich in seinem Zimmer einschließt und nur nachts zum Essen herauskommt. Auch mit seiner Mutter spricht er nicht mehr, seit über zwei Jahren schon. Da bietet sich ihr irgendwann die Möglichkeit, ihm online wieder näherzukommen, in einem Forum für Leute, die Drachen bauen möchten. Tatsächlich lässt sich der Vermisste auf einen Chat ein und lässt sie wieder an seiner Welt teilhaben – ohne zu ahnen, wer da am anderen Ende der Leitung sitzt.
Hikikomori nennt sich das Phänomen, das zuerst in Japan Aufmerksamkeit erlangte, inzwischen aber weltweit an Bedeutung gewinnt: Menschen jeden Alters, oft männlichen Geschlechts, ziehen sich aus der Gesellschaft zurück, bleiben in ihren Wohnungen, ihren Zimmern, kommunizieren nur noch das Nötigste. Das kann von kurzer Dauer sein. Manchmal erstreckt sich diese selbstgewählte Isolation aber über Monate oder gar Jahre. Die Ursachen können dabei sehr unterschiedlich sein, oft hängt es damit zusammen, dass Betroffene dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr gewachsen sind und deshalb nicht mehr an der Welt teilhaben möchten.
Wenn der Sohn plötzlich verschwindet
Auch Regisseur und Co-Autor Marcus Richardt, der hier sein Kinodebüt gibt, erzählt von einem solchen Fall. Er ist nicht der erste, der das tut. Der eine oder andere wird sich vielleicht an 1000 Arten Regen zu beschreiben erinnern, das vor einem Jahr in die hiesigen Lichtspielhäuser kam. Auch dort war es ein junger Mann gewesen, ein Sohn, der sich plötzlich dafür entschieden hat, sein Zimmer nicht mehr zu verlassen, und damit seine Familie ins Unglück stürzte. Denn die wusste ja von nichts.
Während sich der Kollege im Anschluss aber auf die Familie konzentrierte, die mit der Sprachlosigkeit und den fehlenden Antworten klarkommen muss, ist Richardt deutlich gnädiger – mit Publikum wie Protagonisten. Denn er verweigert den Zugang nicht, zeigt den Vermissten später sogar, lässt ihn zumindest teilweise erklären, warum er tut, was er tut. Was er nicht tut. Goliath96 ist dadurch sicher der bekömmlichere Film, der konventionellere auch. Das Drama, das auf den Hofer Filmtagen 2018 Weltpremiere feierte, erzählt die im Grunde klassische und wenig überraschende Geschichte von Familienmitgliedern, die sich nach und nach wieder annähern.
Konventionell und doch sehr aktuell
Dafür ist das „wie“ natürlich ungewöhnlich. Wenn Mutter und Sohn per Internet kommunizieren, dann zeigt Goliath96 sehr schön die so unterschiedlichen Facetten der neuen Medien auf. Einerseits ist da das verbindende Element, wenn jeder mit jedem reden kann, Menschen ins Gespräch kommen, die sich im Leben nie begegnet wären. Gleichzeitig ist da die Anonymität und die Möglichkeit, aus sich jemand ganz anderes zu machen. Sich besser zu machen. Wenn sich David in dem Forum in Goliath umbenennt, dann ist das sicher nicht subtil. Und doch drückt es treffend die Sehnsucht aus, größer zu sein, stärker. Das Forum selbst mag so altbacken aussehen, als hätte es schon 20 Jahre auf dem Buckel. Gleichzeitig spricht Richardt dabei jede Menge aktueller Themen an, gerade auch zu der Weise, wie wir online kommunizieren, manche Sätze wieder und wieder schreiben, bis sie spontan klingen und dem Bild entsprechen, das andere von uns haben sollen.
Rührend ist es ohnehin, wie Kristin hier einen Weg zurück ins Leben findet, das sie zeitgleich mit ihrem Sohn verloren hat. Denn es fällt nicht schwer, Mitgefühl zu entwickeln, wie sie Tag für Tag und Nacht für Nacht an der verschlossenen Tür und der Mauer aus Schweigen verzweifelt. Das ist dann endlich auch mal wieder eine Gelegenheit für Katja Riemann, ihr Schauspieltalent unter Beweis zu stellen, nachdem sie zuletzt mehrfach kein glückliches Händchen bei der Rollenauswahl hatte (High Society, Forget About Nick). Sowohl die anfänglichen One-Woman-Momente wie auch die Szenen, in denen sie sich ins Zeug legt, um möglichst entspannt David wiederzufinden, gehen zu Herzen, zeigen eine Mutter, die alles für ihren Sohn tun würde, aber nicht weiß, was sie überhaupt tun kann und sollte.
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