Endlich raus aus der syrischen Tristesse mit ihren vielen Normen und ihren Erwartungen, raus aus ihrem kleinen eintönigen Leben, mehr will die 25-jährige Nahla (Manal Issa) ja gar nicht. Samir (Saad Lostan) könnte ihr dabei helfen, denn als Auswanderer aus den USA wird er ihr sicher die Freiheit geben, nach der sie sich sehnt. Aber das will alles nicht so klappen wie erhofft. Nahla findet ihn schrecklich langweilig, sie ist ihm zu vorlaut und eigensinnig – weshalb er sich dann auch für ihre jüngere Schwester Myriam (Mariah Tannoury) entscheidet. Trost findet die Verschmähte bei ihrer Nachbarin Jiji (Ula Tabari) sowie in Tagträumen mit einem hübschen Fremden, bei dem sie sein kann, wer sie sein will.
Syrien ist nun schon seit einer ganzen Weile in unseren Köpfen vor allem mit dem dortigen Bürgerkrieg verbunden, mit politischem Hinterzimmergeschacher, mit der Flüchtlingskrise natürlich auch. Wenn mit Mein liebster Stoff ein Film in die Kinos kommt, der davor spielt, genauer im Jahr 2011, dann mutet das irgendwie aus der Zeit gefallen an, irrelevant, ein bisschen unwirklich auch. Wobei Regisseurin und Co-Autorin Gaya Jiji das Thema im Hintergrund durchaus anschneidet, Vorboten einer finsteren Zukunft durch die Bilder huschen. Doch das bietet lediglich den Hintergrund für eine sehr viel universellere Geschichte.
Selbstsuche funktioniert überall
Im Grunde erzählt Jiji von den üblichen Themen eines jungen Menschen: die Sehnsucht nach Liebe, nach einem Ort, gekoppelt an eine Suche nach sich selbst. Wer bin ich eigentlich? Wer kann ich sein? Wer will ich sein? Mit 25 Jahren ist Nahla zwar eigentlich über das gewohnte Coming-of-Age-Alter hinausgewachsen. Das hindert sie aber nicht daran, von einem ganz anderen Leben zu träumen. Dafür ist man schließlich nie zu alt. Zumal sie für ihr Alter auch nicht unbedingt die zu erwartende Reife mitbringt, oft noch sehr kindlich wirkt.
Wenn sie beispielsweise Samir beim ersten Date an den Kopf wirft, sein Leben sei langweilig, dann kann man das als erfrischend unverstellt empfinden. Oder als unverschämt und unerzogen, wie ein kleines Kind eben, das sich so gar nicht darum schert, was von ihm in der Welt da draußen erwartet wird. Und das ist nicht die einzige Szene, in der sie sich nicht gerade vorbildlich verhält. Sie wird auch später diverse Gelegenheiten nutzen, um Sympathiepunkte zu verlieren, wenn sie stiehlt, lügt, andere hintergeht, nur um ihrem Ziel näherzukommen.
Ein Kleid zwischen den Stühlen
Was dieses Ziel genau ist, das weiß sie hingegen selbst nicht so richtig. Mein liebster Stoff, das während der Filmfestspiele von Cannes 2018 Premiere feierte, tut auch relativ wenig dafür, da ein bisschen Licht ins Dunkle zu bringen. Immer wieder verliert sich die junge Frau in erotisch-intellektuellen Tagträumen, die für sie so real sind wie die Momente mit der Familie. Realer vielleicht, weil sie sich zumindest in diesen finden kann. Das bringt ein wenig Romantik in den Film. Man könnte sogar sagen, dass es manchmal ein wenig schwülstig und kitschig wird. Nur dass diese Szenen eben lediglich Teil einer Fantasie sind und als solche in einem starken Kontrast zu dem oft wenig beglückenden Alltag stehen.
So wie die Kleider, die hier immer wieder mal im Mittelpunkt stehen – Nahla arbeitet als Verkäuferin in einem Klamottenladen –, so hat auch der Film eine sinnliche Natur. Und eine sehr widersprüchliche, ist mal schön, dann wieder hässlich, wechselt zwischen Gebrauchsgegenstand und Selbstverwirklichung hin und her, zwischen Stangenware und Individualität. Ein Ort, an dem die Bomben fallen, während wir durch Spiegel blicken und noch an das Märchen glauben wollen, das uns erzählt wurde, nachts in dem Bett, das nicht unseres war.
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