Capernaum
Ausschnitt aus dem aktuellen Film von Nadine Labaki: das Sozialdrama "Capernaum - Stadt der Hoffnung" (© Alamode Film)

Nadine Labaki [Interview]

Dass wir manchmal mit unseren Eltern Streit haben und ihnen vorwerfen, sich nicht genug um uns gekümmert zu haben, doch das kommt hin und wieder mal vor. Sie dafür aber auch gleich zu verklagen, das ist dann doch ein starkes Stück. Genau das geschieht in Capernaum – Stadt der Hoffnung, das nach diversen Festivalauftritten seit dem 17. Januar 2019 auch regulär in den deutschen Kinos läuft. Darin schildert die libanesische Regisseurin und Autorin Nadine Labaki, wie ein vernachlässigter 12-Jähriger vor Gericht zieht, um der Welt von seinen Erfahrungen zu berichten. Wie die Filmemacherin auf die Idee gekommen ist und welche Herausforderungen sie dabei zu überwinden hatte, das hat sie uns in einem Interview erzählt.

Die Geschichte von Capernaum ist ja schon recht ungewöhnlich. Könntest du uns ein bisschen über den Hintergrund des Films erzählen?
Wenn du in einem Land wie dem Libanon lebst und die Probleme dort täglich beobachtest, wie Kinder, die völlig unbeachtet und unsichtbar auf der Straße leben, dann geht das nicht spurlos an dir vorüber. Es war keine Entscheidung, sondern eine Pflicht als verantwortungsbewusster Mensch, etwas zu tun. Wenn ich schweige und mit meinem Leben weitermache, dann bin ich auch mitverantwortlich, weil ich zu dem Verbrechen beitrage. Bei mir war der Auslöser, als ich eines Nachts um 1 Uhr von einer Party nach Hause gefahren bin. Während ich an der Ampel gewartet habe, habe ich einen Jungen gesehen, der vergeblich versucht hat, auf einem Zementblock zu schlafen. Und da fragte ich mich: Wie konnte es so weit kommen, dass wir einen Menschen selbst dieses Grundrechtes berauben, einfach die Augen zu schließen und zu schlafen? Wie kann die Menschheit solche Missstände akzeptieren? Wie können wir alle weitermachen, als wäre nichts? Danach fing der Rechercheprozess an, weil ich mehr wissen wollte. Wenn ich dem Jungen eine Stimme geben würde, was würde er zu der Welt sagen? Er hat ja nicht einmal darum gebeten, hier zu sein. Er ist das Opfer von unseren idiotischen Kriegen, idiotischen Konflikten und auch von idiotischen Regierungen. Er muss den Preis bezahlen. Ich zeichnete das Bild eines Jungen, der mit weit geöffnetem Mund Erwachsene anschreit.

Was hat er geschrien?
Oh, das war nur ein dummer Text. „Ich gehöre nicht in eure Welt“. Dieses Bild entwickelte sich langsam weiter, wie ein Puzzle, das sich nach und nach zusammensetzt. Aus den Erwachsenen wurde der Richter, weil der Junge seine Eltern verklagt. Inspiriert wurde der Film durch die vielen Diskussionen, die wir mit diesen Kindern hatten. Denn wir sind wirklich überall hingegangen, zu den schwierigsten Nachbarschaften im Libanon, in Gefängnisse, Lager. Das waren Kinder, die extrem vernachlässigt wurden, teilweise misshandelt und vergewaltigt. Am Ende haben wir sie immer gefragt, ob sie froh darüber sind, zu leben. Und die meisten antworteten mit „nein“. Manche haben sich als Insekten bezeichnet, als Parasiten. Sie fühlten sich, als wären sie weniger wert als ein Hund. Sie wissen nicht, wann sie geboren wurden. Niemand sagt ihnen, dass sie wichtig sind. Ich wollte diese Wut nehmen und darstellen. Indem er seine Eltern anklagt, klagt er auch das ganze System an. Denn die Eltern sind darin ebenfalls Opfer.

Und wie hast du deinen Hauptdarsteller gefunden?
Zain spielte gerade auf der Straße mit seinen Freunden. Zain ist ein syrischer Flüchtling, der jetzt seit acht Jahren im Libanon lebt, unter sehr schwierigen Verhältnissen. Wir haben über zwei Millionen Flüchtlinge im Libanon, was fast die Hälfte unserer Bevölkerung ist. Zain ist nie zur Schule gegangen, er ist auf der Straße aufgewachsen, in seinem Zuhause schlafen sie alle auf dem Boden. Er wurde zwar nie von seinen Eltern zum Betteln geschickt, wurde aber anderweitig misshandelt. Er hat also eine Menge gesehen. Ich wollte von Anfang an nur mit Darstellern arbeiten, die solche Erfahrungen auch selbst gemacht haben, damit ich nicht deren Geschichten erfinde. Ich wollte so wenig wie möglich eingreifen. Es war eine sehr organische Weise des Arbeitens.

Du bist selbst Mutter von zwei jungen Kindern. Macht es das einfacher, mit ihnen zu arbeiten, oder ist das schwieriger, weil du so nah dran bist?
Ich denke, dass es das einfacher macht, weil ich besser verstehe, wie sie sind, wie sie reagieren und sich verhalten. Die Tricks, die jede Mutter so kennt, die kenne ich natürlich auch. Wir haben ja sehr viel gedreht. Über sechs Monate lang, am Ende kamen über 500 Stunden dabei heraus. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, sehr geduldig zu sein. Du kannst nicht mit Laien-Darstellern arbeiten und ihnen dann dein Timing aufdrücken. Das geht nicht. Du musst sehr geduldig sein und darauf warten, dass Dinge geschehen. Sie dürfen sich nicht bedrängt oder eingeschränkt fühlen. Mutter zu sein half mir aber auch dabei, bestimmte Gefühle hervorzurufen, bestimmte Reaktionen.

Habt ihr dann mit einem Drehbuch gearbeitet oder improvisiert?
Wir hatten ein Drehbuch. Es war auch sehr wichtig, ein solides Drehbuch zu haben, damit wir eine klare Richtung haben. Wir haben drei Jahre lang daran geschrieben, parallel zu unseren Recherchen. Gleichzeitig wusste ich, dass wir die Freiheit haben, alles zu tun, was wir wollen. Das Ziel war es, die reale Persönlichkeit der Darsteller zu unserer Geschichte hinzuleiten. Es war eine Art Verhandlung zwischen dem, was sie sind, wie sie reden, wie sie sich verhalten, und dem, worüber wir reden wollten. Ich habe sie nie gebeten, dass sie schauspielern. Ich habe sie gebeten, einfach zu sein, wer sie sind und ihre eigenen Erfahrungen einzubringen. Das war nicht immer einfach. Gerade am Anfang habe ich mich oft gefragt: Was mache ich hier eigentlich? Das wird ja nie funktionieren! Aber es hat funktioniert. Nur brauchte das eben seine Zeit.

Könntest du uns noch etwas zu dem Titel sagen? Der ist zumindest bei uns etwas erklärungsbedürftig.
Capernaum leitet sich von einem biblischen Dorf ab, das von Jesus verflucht wurde. Den Menschen wurde gesagt, dass sie ein schlimmeres Schicksal ereilen soll als Sodom und Gomorrha. Später wurde der Name benutzt, um Chaos auszudrücken. Wenn du im Wörterbuch nachschaust, wirst du deshalb auch beide Bedeutungen finden: der biblische Ort und ein Ort, an dem alles durcheinander und ungeordnet ist. In der Schule habe ich es damals oft benutzt, um meine Lehrer zu beeindrucken. Während des Schreibprozesses war ich damit beschäftigt, all die Elemente miteinander zu verknüpfen, über die ich reden wollte. Denn du kannst nicht über Kinderarbeit reden, ohne dabei über Kinder ohne Papiere zu reden. Die Absurdität, dass du nicht existierst, wenn du keinen Ausweis hast, der das beweist – obwohl du in Fleisch und Blut vor ihnen stehst. Und dann hast du das Problem: Wie soll ich das machen? Wie packe ich das alles in eine Geschichte? Zusammen mit meinem Mann habe ich all die Themen, die mir wichtig waren, auf eine Tafel geschrieben. Und nach zwei Stunden sagte ich: C’est un Capharnaüm! Das ist Chaos! Noch bevor wir mit dem Schreiben angefangen haben, hatten wir den Titel. Und an dem haben wir festgehalten, auch wenn uns bewusst war, dass viele ihn nicht verstehen würden.

Kann dieses Chaos überhaupt behoben werden?
Ja. Das glaube ich wirklich. Ansonsten wäre es nicht wert zu leben. Dann könnten wir auch alle gemeinsam Selbstmord begehen. Ich bin eine sehr idealistische Person. Es liegt in meiner Natur zu glauben, dass wir etwas verändern können. Dass wir wenigstens davon träumen müssen. Dass wir es versuchen müssen. Mit meinem Film will ich dazu beitragen, dass die Leute über dieses Thema reden und wir eine Diskussion starten. Dass die Probleme ein Gesicht bekommen, einen Namen. Wenn du in den Nachrichten von diesem Thema hörst, dann sind das nur Zahlen. Zahlen lösen in dir aber keine Gefühle aus. Erst wenn du einen Menschen siehst, der wirklich in der Situation ist, verstehst du, was diese Zahlen eigentlich bedeuten. Wir können vielleicht nicht die ganze Welt retten. Aber wir können dazu beitragen, dass sie ein bisschen besser ist.

Nadine Labaki

Zur Person
Nadine Labaki wurde am 18. Februar 1974 in Baabda, Libanon geboren. Nachdem sie zunächst in Kurzfilmen auftrat, drehte sie ab Ende der 1990er mehrere Musikvideos, bevor sie sich dem Film zuwandte. Ihr Debüt Caramel, welches das Leben von fünf libanesischen Frauen beschreibt, feierte 2007 während der Filmfestspiele von Cannes Weltpremiere. Auch ihre beiden weiteren Spielfilme, das tragikomische Wer weiß, wohin? über ein Dorf im Religionsstreit, und das aktuelle Capernaum – Stadt der Hoffnung, waren erstmals während des französischen Festivals zu sehen. In Letzterem erzählt sie die Geschichte eines libanesischen Jungen, der seine Eltern dafür verklagt, ihn geboren zu haben.



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