Soni (Geetika Vidya Ohlyan) ist mit Leib und Seele Polizistin. Voller Eifer arbeitet sie undercover in Delhi, um auf diese Weise Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen. Etwas zu viel Eifer: Immer wieder schlägt sie über die Stränge, wendet selbst Gewalt an, um die Männer im Zaum zu halten. Bislang konnte ihre Vorgesetzte Kalpana (Saloni Batra) immer noch ihre schützende Hand über Soni halten, obwohl diese sich regelmäßig über Anweisungen hinwegsetzt. Als es aber erneut zu einem Zwischenfall kommt und die Polizeibeamtin die Beherrschung verliert, wird diese strafversetzt und soll sich nun um Anrufe kümmern, wo sie keinen Schaden anrichten kann.
Netflix erobert nun auch Indien! Als der Streamingdienst vor einigen Monaten begann, Produktionen aus dem zweitbevölkerungsreichsten Land der Welt ins Programm aufzunehmen, war das vielen Seiten eine Meldung wert. Während jedoch die Serien viel Aufmerksamkeit bekamen, genauer der Großstadtthriller Der Pate von Bombay und der Horrorausflug Ghul, schert sich keiner so recht für die Filme, die aus dem südasiatischen Land kommen. Nicht einmal Netflix selbst, das hier wie bei den meisten asiatischen Produktionen auf eine Synchronisation verzichtet.
Ein versteckter Geheimtipp
Das mag bislang nicht der ganz große Verlust gewesen sein. Ob nun die Krimikomödie Der unsterbliche Brij Mohan oder die feministische Liebeskomödie Lust Stories, gesehen haben musste man das alles nicht. Im Fall von Soni ist das aber sehr schade. Denn das Drama um eine Polizistin, die regelmäßig an einer patriarchischen Welt verzweifelt, ist nicht nur deutlich besser als die oben genannten Beispiele. Es ist sogar einer der besten Netflix-Filme, die in den letzten Monaten herausgekommen ist. Und da wäre etwas mehr Aufmerksamkeit verdient gewesen.
Verständlich ist die Zurückhaltung des Streaminggiganten aber schon, denn trotz unstrittiger Qualitäten: Für die Massen ist Soni nicht geeignet. Regisseur und Co-Autor Ivan Ayr war so sehr darum bemüht, einen realistischen Film zu drehen, dass das Ergebnis relativ spröde ist. Schon die Bilder sind eine Abkehr von dem, was wir sonst auf Leinwand und Bildschirm gewohnt sind. Die Beleuchtung ist sehr natürlich, die einzelnen Szenen wurden ohne Schnitte gedreht – das Arthouse-Drama ist einem Dokumentarfilm oft näher als einem Spielfilm. Dem steht der Inhalt nicht nach: Lange hat Ayr an dem Drehbuch gewerkelt, viele tatsächliche Polizistinnen befragt und deren Erfahrungen und Berichte in seine Geschichte einfließen lassen, um möglichst nahe am Alltag zu sein.
Aus dem wahllosen Alltag
Sofern man überhaupt von einer Geschichte sprechen möchte. Das Drama, welches während der Filmfestspiele von Venedig 2018 Premiere feierte, verzichtet auf eine durchgehende Handlung. Stattdessen reiht Ayr viele einzelne Anekdoten aneinander, die manchmal aufeinander aufbauen. Oft auch nicht. Das Ziel dabei ist klar: Soni soll einen Einblick in das Leben der Titelfigur, aber auch in das ihrer Vorgesetzten geben. Denn beide Frauen haben mit Unterdrückung zu kämpfen, privat wie beruflich. Sie gehen nur anders damit um. Während Kalpana sich leichter fügt und nach Kompromissen sucht, ist Soni sehr viel weniger nachgiebig, sucht im Zweifelsfall die Konfrontation.
Soni ist damit quasi zwei Filme auf einmal. Zum einen zeigt Ayr eine Gesellschaft, in der Frauen systematisch benachteiligt oder gar ausgenutzt werden. In der die Geschlechterhierarchie so stark verinnerlicht ist, dass sie gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird. Gleichzeitig überzeugt das Drama als Charakterstudie zweier sehr unterschiedlicher Frauen. Dabei sind es nicht nur die Momente, wenn mit Soni mal wieder die Pferde durchgehen und sich die aufbrausende Polizistin selbst vergisst, die einem im Gedächtnis bleiben. Es sind auch die leisen Szenen, ohne viel Handlung, ohne viele Worte, getragen von starken Darstellerinnen, die den Film sehenswert machen. Ein Film, der gleichzeitig traurig stimmt und doch auch Wut weckt, obwohl wenig passiert. Manchmal auch weil so wenig passiert.
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