Im dystopischen Los Angeles der nahen Zukunft schlägt und schießt sich Steuereintreiber Nixon durch seine Umgebung. Nach schwersten Verletzungen wird er einer umfangreichen Operation unterzogen. Wenig später wacht er neben Frau und Kindern in seinem Schlafzimmer auf – war es nur ein schlechter Traum!?
Viel mehr von der Geschichte zu verraten, wäre unfair gegenüber dem interessierten Leser. Denn auch, wenn die Geschichte von Hard Boiled in den Hintergrund rückt, würde man die Chance nehmen, dieses Ausnahmewerk in seiner Gänze zu genießen. Obwohl Comic-Ikone Frank Miller inhaltlich nicht den Platz zur Verfügung hatte, die ihm seine Sin City-Reihe geboten hat, entwirft er eine zeitlose Geschichte mit überraschendem Twist. Inspiriert von klassischen Motiven Philip K. Dicks entfaltet Miller eine pessimistische Dystopie voller Gewalt, Sex, Drogen und vor allem Gleichgültigkeit. Wenn Charaktere politisch geächtete Themen emotional abfangen, werden diese ein Stück weit relativiert. Doch wenn die Menschen Mord und Totschlag um sich herum völlig gleichgültig hinnehmen, steht die gesellschaftliche Stabilität am Abgrund.
Ein Abgrund voller Details
Dieser Abgrund entsteht jedoch nicht in der Fantasie des Lesers, er wird ihm von Zeichner Geof Darrow gnadenlos in die Fresse geprügelt (um sich sprachlich an das Werk anzupassen). Was der Amerikaner hier zu Papier bringt, ist nichts geringeres als ein Meisterwerk. Seine Zeichnungen sind nicht irgendwelche Bildchen, die als netter Hintergrund für die Sprechblasen dienen. Darrows Werk ist verdammte Kunst. Bereits auf dem ersten doppelseitigen Bild verliert man sich minutenlang in Details. Gerade wenn man denkt alles gesehen zu haben, tun sich neue Feinheiten auf. Irgendwo zwischen Wimmelbild und „Wo ist Waldo?“ bieten vor allem die großen Doppelseiten Stoff für ein mehrstündiges Studium aller noch so winzigen Elemente. Keine der unzähligen lebenden und toten Figuren gleicht der anderen. Der Reichtum an Ideen, Verweisen und popkulturellen Anspielungen ist endlos: So bekommen nicht nur Disney und die Simpsons ihr Fett weg, sondern auch die kapitalistische, amerikanische Konsumkultur wird an allen Ecken und Enden aufs Korn genommen. Dabei ist Hard Boiled alles andere als ein Comic zum Lachen, das bleibt einem beim Lesen und Schauen nämlich regelmäßig im Hals stecken. Voller Sarkasmus und in allen Poren bitterböse, entwerfen Miller und Darrow eine Welt, die zugleich anekelt und fasziniert.
Damit sich diese Welt aus Blut, Schweiß, Hirn, Öl, Urin, Benzin und Sperma auch wirklich entfalten kann, muss der Leser jedoch tatsächlich zur Neuauflage greifen. Nachdem das Meisterwerk lange Zeit ausverkauft war, erschien letztes Jahr bei Cross Cult die Neuauflage, welche über eine komplett überarbeite Kolorierung verfügt. Fans könnten nun denken, dass würde die ursprüngliche Vision verfälschen. Doch die Anpassungen wie etwa ein erhöhter Kontrast führen dazu, Dinge wahrzunehmen, die einem in alten Auflagen völlig im Verborgenen geblieben sind. Und da genau diese unzähligen Details Hard Boiled erst zum Must Have für jeden Comicfan machen, ist der Kauf unvermeidlich.
Auf eine Fortsetzung hoffen Fans wahrscheinlich vergeblich, doch zumindest die Hoffnung auf eine Filmadaption ist noch nicht final vom Tisch. Nach Versuchen so namhafter Regisseure wie den Wachowskis oder David Fincher, soll nun Ben Wheatley (High-Rise, Free Fire) die Adaption inszenieren. So hieß es zumindest 2016, seither herrscht Funkstille. Das Warten auf den filmischen Abgrund geht also weiter.
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