Das Leben ist hart auf dem Landgut Inviolata der Marquise Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi). Auch wenn die Landarbeiter tagein, tagaus schuften, sich um die Tiere kümmern und Tabak ernten, sie kommen einfach auf keinen grünen Zweig. Anstatt die Schulden abarbeiten zu können, werde diese immer mehr. Erst als der gutmütige Knecht Lazzaro (Adriano Tardiolo) auf Tancredi (Luca Chikovani) stößt, den Sohn der Familie de Luna, wird sich das Blatt wenden. Denn der erkennt, welches gemeine Spiel seine Mutter da treibt. Als er sich entschließt, selbst ein bisschen von dem unrecht erworbenen Reichtum abzubekommen, wird er nicht nur das Leben seiner Familie für immer verändern.
Nicht nur die unglückseligen Arbeiter des Landgutes werden lange Zeit im Unklaren gehalten. Auch als Zuschauer weiß man in Glücklich wie Lazzaro zunächst nicht, was genau hier eigentlich gespielt wird. Zunächst wirkt es so, als seien wir hier viele Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückgereist, um einem traditionellen Bauernhof irgendwo auf dem Land einen Besuch abzustatten. Erst mit der Zeit mehren sich die Zeichen, dass da etwas nicht stimmt. Dass der Hof nicht ist, was er vorgibt zu sein. Dass die Geschichte der Menschen eine andere ist, als wir hier zu Beginn glauben sollen.
Das Leben nach der Erkenntnis
Doch Glücklich wie Lazzaro allein auf diesen Twist zu beschränken, würde dem Film nicht gerecht. Anders als etwa M. Night Shyamala, der darauf einen ganzen Film gebaut hätte – tatsächlich hat der notorische Twist-Gläubiger einen ähnlichen wie diesen hier schon einmal verwendet –, hat Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Rohrwacher etwas ganz anderes damit vor. Ihr dritter Spielfilm hat zudem deutlich mehr Stärken, verliert nicht seinen Reiz, nachdem die Katze aus dem Sack ist. Glücklicherweise, denn die Auflösung erfolgt hier untypischerweise nicht zum Schluss, sondern in der Mitte. Und es ist nicht der einzige Moment, an dem man etwas ungläubig auf das Geschehen starrt.
Einerseits hat die italienische Filmemacherin ein bitteres Sozialdrama gedreht, das einem vor allem in der zweiten Hälfte das Herz herausreißt, es an Tiere verfüttert, bevor es dann diese Tiere auch noch massakriert. Gleichzeitig ist der Film durchaus komisch, absurd, könnte manchmal in seiner bissigen Surrealität auch von Monty Python stammen. Dann wiederum wäre auch die Fantasy-Schublade nicht ganz verkehrt, wenn der Film Märchenelemente annimmt. Nur eben kein Märchen, das vor einer langen Zeit gespielt hat, in einem fernen Land, das von Hexen und Riesen bewohnt wurde. Glücklich wie Lazzaro hat sehr viel über unsere Zeit, unser Land, unser Leben zu sagen, durch das Monster ziehen, die auf zwei Beinen unterwegs sind.
Allein in der großen weiten Welt
Die einzige Konstante in diesem wirbelwindigen Wechselbad der Gefühle: Lazzaro. Denn der passt eigentlich nie wirklich. Er ist zu unschuldig, zu leichtgläubig, zu gutmütig. Und doch ist er eben glücklich: Wo andere sich mit dem Leben abstrampeln, unter allem und jedem leiden, da findet er das Glück am Straßenrand. Diese fast unmenschliche Güte des jungen Mannes, grandios von dem bislang unbefleckten Nachwuchsdarsteller Adriano Tardiolo verkörpert, entgeht natürlich auch dem Rest der Figuren nicht, die ihn mal dafür vergöttern, ihn mal dabei ausnutzen. Was Menschen eben so tun, wenn sie jemanden entdecken, der in der Hierarchie noch unter einem steht.
Das macht Glücklich wie Lazzaro, das bei den Filmfestspielen von Cannes 2018 Premiere feierte, zu einem recht zynischen, irgendwie bösartigen Werk. Einem fatalistischen auch, wenn Verlierer Verlierer bleiben, unabhängig vom Drumherum. Und doch ist die Geschichte eines jungen Mannes, der selbst dann an das Gute glaubt, wenn um ihn herum alles auseinanderbricht, unfassbar rührend, lässt einen selbst wieder an Wunder glauben. Rohrwacher und ihre Kamerafrau Hélène Louvart (Beach Rats) nehmen uns mit in ein grobkörnig-bezauberndes Märchenland zwischen Obdachlosigkeit, Unterdrückung und Paradiesidylle, in dem selbst einem Nichts noch Würde möglich ist, Abfall ein Festmahl sein kann und der Absturz nicht zwangsweise ein Ende sein muss.
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