Der Tod ihrer Mutter Nawal (Lubna Azabal) hat die Zwillinge Jeanne (Mélissa Désormeaux-Poulin) und Simon (Maxim Gaudette) schwer getroffen – und sehr verwirrt. Denn in ihrem Testament verfügt sie, keine reguläre Beerdigung zu gestatten, bis die beiden zwei Bedingungen erfüllt haben. Sie müssen sowohl ihren Bruder ausfindig machen, von dem sie bislang nichts wussten, wie auch ihren Vater, von dem sie ausgegangen waren, dass er längst verstorben ist. Erst wenn sie die zwei gefunden und ihnen Abschiedsbriefe von Nawal übergeben haben, dürfe sie ein ordentliches Grab bekommen. Und so begeben sie sich auf die Suche und müssen dabei feststellen, wie wenig sie über ihre Mutter und ihre Familie wussten.
Inzwischen ist Denis Villeneuve zum wohl bekanntesten und renommiertesten Science-Fiction-Regisseur unserer Zeit aufgestiegen: Seine beiden Werke Arrival und Blade Runner 2049 wurden weltweit gefeiert, gebannt warten Fans schon auf seine Romanadaption Dune. Dabei war der kanadische Filmemacher ursprünglich ein Fachmann für sehr irdische Dramen, in denen er seine Figuren gerne mal auseinandernahm – und das Publikum gleich mit. Die Frau, die singt, der vierte Spielfilm Villeneuves, war dabei der erste, der auch hierzulande veröffentlicht wurde und stieß zumindest bei Kritikern auf große Begeisterung.
Doppelte Reise in den Nahen Osten
Das Massenpublikum nahm hingegen eher weniger Notiz von dem Film, knapp 30.000 Besucher verirrten sich seinerzeit in die Kinos. Die durften mit Die Frau, die singt jedoch ein Drama erleben, das einen im Anschluss kaum mehr loslässt. Dabei mutet das Werk anfangs eher wie ein Krimi an: Wenn Jeanne ihre Suche nach Antworten beginnt, dann gleicht das einer Detektivin, die Hinweise sammelt, Zeugen befragt, Schauplätze begutachtet, um herauszufinden, was genau gespielt wurde. Dieser in der Gegenwart angesiedelte Handlungsstrang wechselt sich immer wieder mit vergangenen Szenen ab, wenn wir Nawal selbst auf ihrem Weg begleiten.
Die Flashbacks liefert dabei eindeutig die emotionaleren Momente. Während Jeanne nur eine stille Beobachterin bleibt, ist Nawal Mittelpunkt einer tragischen Geschichte. Diverser tragischer Geschichten sogar. Je mehr wir über sie erfahren, über ihren Werdegang, umso größer wird das Grauen. Umso größer wird aber auch die Bewunderung für eine Frau, die für ihre Kinder vielleicht etwas wunderlich erschien, dabei jahrelang versteckte, was sie zuvor alles erlebt hat, bevor sie aus dem Nahen Osten nach Kanada auswanderte. Die Frau, die singt erzählt von den Gräueltaten in einem Land, das von Krieg und Hass zerfressen ist, von Rassismus und bizarren Ehrvorstellungen.
Das Grauen des Kopfkinos
Dabei muss Villeneuve noch nicht einmal ins Detail gehen und explizit werden. Viele der Schreckensmomente spielen sich allein im Kopf ab, wenn die Sprache der wechselnden Erzähler sich zu einem Bild des Grauens zusammensetzen. Wo andere Regisseure das Leid zelebriert hätten, mit brutalen und exzessiven Aufnahmen, da ist Die Frau, die singt immer ein wenig entrückt, verzichtet in entscheidenden Momenten auch schon mal auf den Ton. Das hat manchmal eine etwas unwirkliche Atmosphäre, zum Ende hin wandelt sich der Film ohnehin zu einer klassischen Tragödie, die sich mit teils bizarren Wendungen von einer herkömmlichen Wahrscheinlichkeit löst. Zumindest an der Stelle ist auch zu spüren, dass der Film auf einem Theaterstück basiert, genauer auf Incendies von Wajdi Mouawad.
Die Frau, die singt ist daher auch eine Mischung, die ebenso eigenwillig ist wie die Verstorbene und ihre Begräbniswünsche. Auf der einen Seite ist das Drama eine absurde Anhäufung von Zufällen, die man einem gewöhnlichen Film nie abnehmen würde. Nur hat Villeneuve eben keinen gewöhnlichen Film gedreht. Wenn er uns mitnimmt auf eine Reise in Schmerz und Leid, dann ist das einerseits eine sehr persönliche Geschichte. Gleichzeitig löst sich der Film aber hiervon und wird zu einer allgemeinen Auseinandersetzung mit Trauer und Wut, mit Glück und Liebe, mit Gefühlen, die sich widersprechen und dabei doch ergänzen. Am Ende ist das Werk ein Plädoyer dafür, sich eben nicht von dem Hass dieser Welt vereinnahmen zu lassen – was den Film fast neun Jahre später noch mindestens genauso aktuell macht wie damals.
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