Wenn jemand anders ist, als wir es gewohnt sind, dann kann das spannend oder faszinierend sein. Manchmal aber auch erschreckend oder unangenehm. Ausgrenzung kann die Folge sein, vielleicht sogar Spott und Gewalt, unterstützt zuweilen von populistischen Scharfmachern, die ganz gern mit der Angst anderer fette Kasse machen. Umso wichtiger wäre es eigentlich, einen Austausch zu ermöglichen, am besten sogar anzuregen. Erst wenn der andere für uns normal ist, wir ihn kennen und mit ihm umzugehen gelernt haben, können wir ihm unvoreingenommen begegnen. Ermöglichen wir ihm auch, ein ganz normales Leben zu führen.
Dieser Gedanke steckt hinter der Idee inklusiver Klassen, in denen Kinder mit Behinderung und „normale“ Kinder gemeinsam lernen. Vorbehalte dagegen gibt es noch immer, gerade von besorgten Eltern, die den Lernfortschritt ihres Nachwuchses in Gefahr sehen. Wenn der Rest der Klasse langsamer lernen muss, um auf Einzelne zu warten, schadet das dem weiteren Lebensweg – so die Befürchtung. Aber was ist dran an dieser Befürchtung? Was macht das mit den Menschen, die von früh an tagtäglich zur Rücksicht gezwungen werden?
Spätes Wiedersehen
Eine Antwort darauf liefert Die Kinder der Utopie, wenn wir einigen jungen Erwachsenen begegnen, die früher selbst in einer solchen Inklusionsklasse waren. Eine Inklusionsklasse, die mancher im Publikum schon kennen wird: Klassenleben hieß der 2005 veröffentlichte Dokumentarfilm, in dem Regisseur Hubertus Siegert eine Berliner Schulklasse begleitete, in der das Experiment Inklusion gewagt wurde. Nun, mehr als ein Jahrzehnt später, begegnet er einigen von ihnen wieder. Sechs ehemaligen Jungen und Mädchen hat er sich herausgesucht, befragt sie zu ihren Erfahrungen, ihrem aktuellen Leben, lässt sie auch erneut aufeinandertreffen.
Das wirkt wie ein ganz normales Klassentreffen, mit den ganz normalen Fragen, die man sich eben so stellt, wenn man sich jahrelang nicht gesehen hat: Wie geht es dir? Was machst du so? Wo lebst du gerade? Die Umstände sind natürlich forciert. Wie authentisch das Verhalten ist, wenn eine Kamera gleichzeitig mitfilmt, darüber lässt sich immer streiten. Und doch wirkt sie echt, die Vertrautheit der sechs, das Interesse aneinander. Sechs junge Menschen, die einen wichtigen Abschnitt ihres Lebens miteinander geteilt haben und sich nun wiederbegegnen, mit einer Mischung aus Neugierde und Nostalgie.
Die ewige Suche nach dem eigenen Weg
Die aktuelle Lebenssituation der sechs ist dabei gar nicht so unterschiedlich. Die Schulzeit mag vorbei sein, ganz im Erwachsenenleben sind sie aber noch nicht angekommen. Mal wird nach einer beruflichen Perspektive gesucht, andere wären schon froh, wenn sie endlich zu Hause ausziehen könnten. Christian sucht sich nach seinem Coming-out selbst, Marvin sucht nach Antworten im Glauben. Es sind sehr persönliche Geschichten, die hier mit dem Publikum geteilt werden, wenn Siegert untersucht, was aus den Kindern von damals geworden ist.
Wäre ihr Leben heute anders, wären sie nicht in dieser Klasse gewesen? Schon möglich. Vielleicht wäre die angehende Küchenhilfe Natalie nicht so selbstbewusst bei ihrem Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen. Dennis wiederum, der gerade dabei ist, Musical-Karriere zu machen, denkt darüber nach, ob der Umgang mit andersartigen Menschen ihn darauf vorbereitet hat, wenn er in seinem neuen beruflichen Umfeld von Homosexuellen umgeben ist. Die Kinder der Utopie regt dann auch dazu an, selbst darüber nachzudenken, worauf es in dem Alter wirklich ankommt. Ist es der Stoff, der in den Büchern steht? Ist es die soziale Kompetenz und Akzeptanz? Gelegenheiten zum Gedankenaustausch gibt es bei dem Dokumentarfilm auf jeden Fall genug: Nach der Premiere auf dem DOK.fest München 2019 wird er an einem einzigen Aktionstag (15. Mai 2019) bundesweit in Kinos gezeigt. Wem das bloße Zuschauen nicht reicht, der kann sich auch selbst einbringen, indem er etwa Screenings beantragt oder Diskussionsrunden organisiert. Mehr Infos dazu gibt es auf der Homepage.
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