Sie träumte von dem großen Glück, als sie sich von Nigeria auf den Weg nach Europa machte. Viel geblieben ist Joy (Joy Anwulika Alphonsus) davon jedoch nicht. Tausende von Euro schuldet sie den Schleppern dafür, dass sie sie hierher gebracht haben. Geld, das sie mühselig abstottert, indem sie als Prostituierte für ihre Zuhälterin Madame (Angela Ekeleme Pius) arbeitet. Abgefunden hat sie sich mit ihrer Situation, schließlich hat sie nach wie vor ein Ziel vor Augen. Als illegale Einwanderin ohne Deutschkenntnisse fehlen ihr ohnehin die Alternativen. Doch dann wird ihr aufgetragen, sich um die junge Precious (Precious Mariam Sanusi) zu kümmern, die ebenfalls zur Prostitution gezwungen wird und sich nicht damit abfinden mag.
Billig produzierte Massenware, unterbrochen von dem einen oder anderen superteuren Prestigeobjekt, so sieht das Sortiment der Netflix-Filme im Großen und Ganzen aus. Dazwischen finden sich aber auch immer wieder eher spröde Arthouse-Werke, welche der Streamingdienst bei Filmfesten aufgabelt und ins Programm aufnimmt, selbst wenn diese eigentlich so gar nicht in diese Mischung reinpassen. Immerhin, die Qualität dort stimmt: Ob die filmische Reise nun nach Island geht (Und atmen Sie normal weiter) oder Indien (Soni), sehenswert sind diese Dramen zumeist. Und das gilt dann auch für Joy, das uns eine Welt vor Augen führt, die einem geografisch sehr nahe ist und dabei doch ziemlich fremd erscheint.
Freude ist ausverkauft
Den Titel sollte man dabei nicht wörtlich nehmen, von Freude ist hier weit und breit nichts zu spüren. Es ist sogar fast schon ironisch, einen derart bitteren Film Joy zu nennen. Oder auch konsequent: Der Titel geht auf die Hauptdarstellerin Joy Anwulika Alphonsus zurück, die wie alle hier keinerlei Schauspielerfahrungen mit sich bringt, dafür aber Erfahrungen mit dem Thema. Wenn Regisseurin und Drehbuchautorin Sudabeh Mortezai darüber spricht, wie nigerianische Mädchen systematisch zur Prostitution gezwungen werden, dann geschieht das aus nächster Nähe, mit einem großen Gespür für Authentizität, ohne das Bedürfnis, daraus ein großes Drama zu machen.
Dass der Schauplatz Wien ist, das spielt beispielsweise keine Rolle. Mortezai verzichtet darauf, den Schickfaktor der österreichischen Hauptstadt mit Elendsbildern kontrastieren zu wollen. Schick ist in Joy, das bei den Filmfestspielen von Venedig 2018 Premiere feierte, ohnehin wenig. Die einzigen Farbtupfer, die uns Mortezai bereitstellt, sind am Anfang, in Nigeria, als das Unglück seinen Lauf nimmt. Im Rahmen eines Juju-Rituals wird Joy dazu gezwungen, nicht gegen ihre Landsleute auszusagen. Sie denkt nicht groß darüber nach, so wie auch das Publikum sich nicht lange damit aufhält. Bis erst später, viel später, deutlich wird, wie dies bereits Teil eines ausbeuterischen Systems ist, aus dem es kein Entkommen gibt.
Ein System ohne Ausweg
Das ist dann auch der Teil, der besonders erschüttert. Mortezais Blick auf das Flüchtlingsprostitutionshamsterrad zeigt, wie sehr das eine in das andere greift. Wie schwierig es ist, hier einen klaren Schnitt zu machen. Wer einmal hineingerutscht ist, wird Teil eines Automatismus, der aus Opfern oft Täter macht. Die unbarmherzige Madame war selbst früher eine Prostituierte. Und auch Joy, die sich etwas in der Verantwortung für die junge Precious sieht, wird keinen wirklichen Versuch starten, sie aus den Fängen zu befreien. Im Zweifel hält sie sich doch an das, was ihr aufgetragen wird, zu groß ist die Angst, zu groß ist wohl auch immer noch die Hoffnung, dass es irgendwann besser werden könnte.
Perfiderweise gibt es sie nämlich immer wieder, die kleinen Hoffnungsschimmer. Kurze Momente, in denen der Anschein erweckt wird, dass der Film seinen Titel vielleicht doch noch zurecht tragen könnte. Doch die Realität sieht anders aus. Schön oder unterhaltsam wird Joy nie. Die Geschichte bleibt bitter, die Inszenierung nüchtern – Mortezai begann ihre Karriere mit Dokumentationen. Wo hier Fiktion beginnt und Fakt endet, das ist ebenso schwierig wie die Einteilung in Opfer und Täter. Zu sehr geht alles ineinander über. Das österreichische Drama zeigt einen Kreislauf, bei dem weder der Anfang noch ein Ende sichtbar sind. Denn es wird weitere junge Frauen geben, mit der Hoffnung im Herzen, weitere Joys. Aber auch weitere Madames, weitere Rituale, weitere Enttäuschungen.
(Anzeige)