Zum 50. Mal jährte sich 2018 der Prager Frühling. Jener Versuch der Tschechoslowakei, sich zu öffnen, mehr Demokratie und Freiheit zu wagen. Jener Versuch, der auch durch seine blutige Niederschlagung durch die Sowjetunion in die Geschichtsbücher einging. 50 Jahre, das ist eine lange Zeit, kann es zumindest sein. Eine Zeit, nach der manches noch immer nachwirkt, die eine oder andere Wunde nicht verheilt ist. Eine Zeit, in der anderes dafür in Vergessenheit geraten ist – mal aus Vernachlässigung, mal aus Verdrängung.
Ein Beispiel für Letzteres: der Großonkel von Anna Kryvenko. Der war einst Teil der Familie, war Teil des Familienalbums, bevor man ihn aus beidem entfernte. Aber wer war dieser Mann, dieser unbekannte Soldat, über den heute kaum einer mehr sprechen mag? An den sich kaum einer mehr erinnert? In My Unknown Soldier begibt sich die Ukrainerin auf eine Spurensuche nach ihrem verschwundenen Verwandten. Eine Suche, die sie zu besagtem Prager Frühling führte, als ihr Großonkel als Teil der Armee beim Nachbarn einfiel.
Eine Suche ohne Ende
Das erinnert ein wenig an Chris the Swiss, in dem ebenfalls die Suche nach einem verstorbenen Familienmitglied im Mittelpunkt steht. Wo jedoch bei der Schweizer Produktion der Gesuchte im Fokus bleibt, nach und nach durch andere Menschen mehr Kontur erhält, da bleibt die unbekannte Titelfigur von My Unknown Soldier ein Phantom. Der Dokumentarfilm mag als Beschäftigung mit einer Person begonnen haben, hat zu dieser aber gar nicht so wahnsinnig viel zu sagen. Die Fragen, die Anna zu Beginn hat, die sind am Ende des Projekts immer noch dieselben.
Wer in dem Film eine Detektivgeschichte erwartet oder erhofft, der wird sein Glück nicht finden. Stattdessen erweitert sich der Blick hier mit der Zeit, stellt Querverbindungen auf, lässt Zeit und Raum verschwinden. Wenn der Beitrag vom DOK.fest München 2019 Parallelen zwischen dem Prager Frühling und dem Krieg zwischen der Ukraine und Russland aufbaut, dann nicht um zu werten oder konkrete Informationen mit dem Publikum zu teilen. Stattdessen wird die Spurensuche zu einer Collage, in der die verschiedensten Elemente zusammenfinden, historisch und gegenwärtig, persönlich und universell.
Verloren zwischen Bild und Text
So verwendet My Unknown Soldier immer wieder Voice overs, wenn Anna ihre eigene Familiengeschichte erzählt. Die Bilder können dabei ebenfalls privater Natur sein. Oft sind es aber historische Aufnahmen, die von dem Prager Frühling handeln und keinen direkten Bezug zu den Worten haben. Sofern es überhaupt Worte in dem Moment gibt. Längere Passagen des Films kommen ganz ohne aus, bestehen stattdessen aus Aufnahmen von Soldaten, die mit einer leicht unheimlichen, sphärischen Musik unterlegt sind. Wer diese Soldaten sind, erfahren wir nicht, passend zum Titel bleiben auch diese unbekannte Fragmente einer düsteren Vergangenheit.
Die Atmosphäre ist dadurch zuweilen etwas geisterhaft, eine diffuse Erinnerung an etwas, das niemand kennt. Selbst in den Momenten, wenn My Unknown Soldier konkreter und hoffnungsvoller wird, bleibt der Film wenig greifbar. Eine tatsächliche Auseinandersetzung mit dem Prager Frühling ist die Dokumentation daher weniger, höchstens als Verallgemeinerung bewaffneter Konflikte. Ein Krieg ist ein Krieg ist ein Krieg. Der Studentenfilm ist dafür eine beklemmende, oft auch melancholische Zeitreise, die in eine Welt führt, die überall und nirgends ist.
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