Die Hoffnungen waren groß, als sich Oleg (Valentin Novopolskij) auf den Weg in den Westen machte, seine Heimat Lettland verließ, um in Belgien noch einmal neu anzufangen. Doch das Schicksal meint es nicht gut für ihn. Schon kurz nach seiner Ankunft verliert der Schlachter seinen Job, nachdem ein Kollege ihm einen Fehler in die Schuhe schiebt. Glück im Unglück: Er läuft dabei auch dem Polen Andrzej (Dawid Ogrodnik) über den Weg, der sich seiner annimmt, ihm einen Platz zum Schlafen besorgt, sich auch sonst um ihn kümmern will. Zu spät erkennt Oleg dabei, dass sein krimineller neuer Freund ganz andere Absichten hat.
Sklaverei? Die gibt es in Europa nicht mehr, wurde nach und nach im Laufe des 19. Jahrhunderts abgeschafft. Wer nicht will, kann von niemand anderem dazu gezwungen werden, für ihn zu arbeiten oder bestimmte Tätigkeiten auszuführen. So die Theorie. Die Realität sieht natürlich etwas anders aus, ist deutlich komplexer, als es die Gesetzbücher vorschreiben. Denn Gesellschaften, in denen Teile über Geld verfügen, Teile nicht, entsteht automatisch ein Ungleichgewicht. Entstehen Abhängigkeiten. Ein schockierendes Beispiel führte uns letztes Jahr der Dokumentarfilm Eine gefangene Frau vor Augen.
Warum machst du nichts?
Auch Oleg erzählt eine solche Gesellschaft, dieses Mal in Spielfilmform. Das kratzt dann natürlich erst einmal an unserem Glaubwürdigkeitsempfinden. Tatsächlich macht es einem die Titelfigur manchmal nicht ganz leicht sie ernst zu nehmen, in ihrer Mischung aus Naivität und Passivität. Während man als Zuschauer recht schnell ahnt, dass Andrzej nichts Gutes im Schilde führt, lässt sich der junge Lette einlullen, glaubt tatsächlich daran, dass da jemand ist, der sich für ihn interessiert und ihm helfen will.
Wann der Punkt erreicht ist, wenn Oleg die Wahrheit ahnt, das ist nicht ganz einfach zu sagen. Da der Glücksritter keine nennenswerten Verbündeten hat, niemanden, mit dem er sich unterhalten könnte – auch durch die Sprachbarriere – bleibt er für das Publikum sehr distanziert und unergründlich. Es ist noch nicht einmal so, dass Regisseur und Co-Autor Juris Kursietis so wahnsinnig viel dafür tun würde, dass man ihn unbedingt mögen muss. Wir erfahren nie so recht, wer er ist, was er will, was in ihm vorgeht. Es fehlt der Kontrast, der ihn außerhalb der Abhängigkeit einmal zeigen würde, um zu verstehen, mit wem man es überhaupt zu tun hat.
Der distanzierte Weg zum Herzen
Oleg, das in der Directors’ Fortnight von Cannes 2019 Weltpremiere feierte, ist deshalb eine Weile ein Geduldsspiel. Hinzu kommt, dass das Drama sehr rau und spärlich angelegt ist. Wackelnde Handkameras, körnige Bilder, fehlende Musik, der Film ähnelt mehr einer Dokumentation als einem fiktiven Werk. Eines, das sich auch viel Zeit lässt, um auf den Punkt zu kommen. Kursietis deutet zwar an, dass seine Geschichte düster wird. Doch das bleibt erst einmal ein Versprechen. Die großen Krisen oder schockierenden Ereignisse bleiben aus, stattdessen gibt es ein langsames Abgleiten in eine immer größere Abhängigkeit.
Oleg ist dann auch kein Film, der die Situation seines Protagonisten für billiges Drama oder Schlagzeilenmomente missbraucht. Stattdessen führt er – von einigen Traumsequenzen abgesehen – sehr nüchtern vor, wie ein Mensch mitten in Europa auch heute noch seine Souveränität verlieren kann. Das geht, all der Distanz zum Trotz, später doch noch zu Herzen, wenn Oleg seine eigene Ausweglosigkeit begreift und mit verzweifelten Mitteln Hilfe sucht. Seine Unbeholfenheit legt er nicht ab, seine Versuche sind in ihrer Inkonsequenz irgendwie kurios – gleichzeitig aber eben auch erschütternd.
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