Ray and Liz
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Ray & Liz

Ray and Liz
„Ray & Liz“ // Deutschland-Start: 9. Mai 2019 (Kino)

Ein stabiles Zuhause? Geordnete Verhältnisse? Nein, das sollte man besser nicht von Familie Billingham erwarten. Nur mit Mühe und Not kommen sie so über die Runden. Vater Ray (Justin Salinger) trinkt sich regelmäßig in die Bewusstlosigkeit, Mutter Liz (Ella Smith) hat mit ihrem Gewicht und einem übermäßigen Zigarettenkonsum zu kämpfen. Oder hätte es, wenn sie sich irgendwie dafür interessieren würde. Was sie nicht tut. So wie sie sich allgemein wenig für das interessiert, was in ihrem Zuhause in einem Vorort von Birmingham so vor sich geht. Zu leiden haben darunter vor allem die beiden Söhne Richard und Jason, die mit ihnen unter einem Dach hausen.

Wenn wir uns an früher zurückerinnern, an unsere Kindheit beispielsweise, dann ist die Versuchung oft groß, die Vergangenheit etwas schöner zu machen, aufregender, besser. Bei Richard Billingham ist das offensichtlich nicht der Fall. Und wenn doch, will man das als Zuschauer gar nicht so genau wissen. Denn schon in der vorliegenden Form geht einem Ray & Liz an die Nieren, wenn wir zusammen mit dem Engländer eine Reise in seine Vergangenheit machen. Genauer sind es sogar mehrere, die sich hier zu einem Bild zusammenfügen, das es sich anzusehen lohnt, selbst wenn man das vielleicht nicht immer will.

Ein Film wie aus einem Fotoalbum
Bekannt ist Billingham eigentlich für Fotografien, etwa für seinen Band Ray’s A Laugh (1996), in dem er seinen Vater Ray und seine Mutter Liz unsterblich machte. Ray & Liz ist nun so etwas wie die Filmversion davon. Das zeigt sich nicht nur thematisch, wenn das Drama drei Episoden aus dem Leben der Familie festhält. Es zeigt sich auch formal: Die Aufnahmen im 4:3-Format erinnern an alte Fotos, Schnappschüsse aus einer vergangenen Welt, die gleichermaßen vertraut und fremd ist. Ein wenig heimelig und doch auch erschreckend.

Wobei Billingham natürlich nichts dem Zufall überlässt. Was vielleicht wie eine spontane Momentaufnahme wirken könnte, ist in Wahrheit kunstvoll durchkomponiert. Ob sich Jason seiner Vorliebe für Tiere zuwendet, Mutter Liz gerade am Fenster sitzt und strickt oder Ray langsam seinem eigenen Alkoholismus erliegt, immer sind die Bilder voller Details, voller verblüffender Verbindungen, die aus dem vermeintlichen Nichts der dezent verwahrlosten Familie doch sehr viel mehr machen. Selbst Banalitäten wie eine Fliege werden inszeniert, als würde sich die ganze Welt nur um sie drehen. Was vielleicht auch stimmt, mangels Alternativen.

Ein Nichts voller Zeug
Sehr viel Handlung hat Ray & Liz, das auf dem Locarno Festival 2018 Weltpremiere hatte, sicher nicht. Billingham gibt dem Publikum auch relativ wenige Kontexte mit auf den Weg, die erklären könnten, wann, wo, wer, was tut. Nicht dass es nötig gewesen wäre. Denn hier steht nichts Besonderes im Mittelpunkt, sondern ein Alltag. Auch wenn es ein Alltag ist, den wohl wenige in der Form kennen oder kennen sollten. Ein Alltag, der von Grausamkeit geprägt ist, von Missbrauch und Vernachlässigung. Aber auch von Einsamkeit: So unfähig Ray und Liz auch wirken, für sich oder ihre Kinder zu sorgen, man steht ihnen doch mit sehr ambivalenten Gefühlen gegenüber, diesen Menschen, die in ihrem eigenen Leben gefangen sind.

Wo andere Regisseure ihre Sozialdramen zu einem Kommentar über die Gesellschaft machen, allen voran Ken Loach (Angels’ Share – Ein Schluck für die Engel, Ich, Daniel Blake), da ist Ray & Liz fast völlig unpolitisch. Sicher ist das Schicksal der Billinghams auch Ausdruck einer sozialen Kälte zur Zeit von Margaret Thatcher, wo sich jeder selbst überlassen wurde – mit teils verheerenden Konsequenzen. Der Film erzählt jedoch eine sehr persönliche Geschichte, die gar nicht den Anspruch hat, mehr als das zu sein. Und er erzählt sie auf eine ganz eigene, persönliche Weise. Im einen Moment kurios, im nächsten schockierend, voller Wut und doch auch Zärtlichkeit entführt uns das Drama in einen Mikrokosmos, der arm und doch reich ist, in dem so wahnsinnig viel passiert, auch wenn nichts passiert, das klaustrophobisch vollgestopft ist mit Krimskrams und Bildern einer Welt da draußen, die so nah erscheint und dabei für immer unerreichbar bleiben wird.



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Mit „Ray & Liz“ erinnert sich der gefeierte Fotograf Richard Billingham an seine Eltern bzw. seine Kindheit und lässt uns dabei an einer ganz eigenen Welt teilhaben. Die ist oft schäbig, irgendwo zwischen kurios-komisch und tieftraurig, träumt von einer großen Welt da draußen, während wir Gefangene einer klaustrophobischen Detailflut werden.
8
von 10