Auf den Urlaub kann er gern verzichten. Und auf seine Familie sowieso. Sind alle doof, keiner versteht ihn. Also schnappt sich Gyllen (Fionn Whitehead) an seinem 18. Geburtstag den Camper seines Stiefvaters und braust davon. Das zumindest war der Plan. Sonderlich weit kommt er bei seiner Flucht jedoch nicht, schon nach kurzer Strecke scheint der Wagen den Geist aufzugeben. Glück im Unglück: Er begegnet dabei William (Stéphane Bak), der seine eigenen Gründe hat, Marokko verlassen zu wollen. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise, auf der sie einander, aber auch sich selbst noch einmal völlig neu kennenlernen werden.
Wenn Filmemacher einen Volltreffer landen, entpuppt sich das oft als etwas zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite eröffnet es völlig neue Möglichkeiten für zukünftige Projekte. Auf der anderen Seite gehen damit zwangsläufig hohe Erwartungen einher. Siehe Sebastian Schipper. Der hatte zuvor schon drei Filme inszeniert, die jedoch international wenig Aufmerksamkeit erregten. Ganz anders Victoria: Die Geschichte um eine Gruppe von Jugendlichen, die feiern wollen, danach aber in einen Überfall hineingezogen werden, wurde komplett ohne Schnitte gedreht – eine Mammutaufgabe für alle Beteiligten.
Höher, schneller, weiter
Wie aber einem solchen Ausnahmewerk folgen? Antwort: gar nicht. Oder zumindest nicht so wie erwartet. Auf der einen Seite legt Schipper seinen neuen Film Roads deutlich größer an als das vorangegangene mehrfach prämierte Thrillerdrama. Das betrifft einerseits den Schauplatz: Aus einer Berliner Nacht wird eine Rundreise, die in Marokko beginnt und anschließend quer durch Europa führt. Und auch inhaltlich ist das hier spürbar ambitionierter, die sehr persönliche Geschichte von zwei Jugendlichen wird um gesellschaftlich relevante Aspekte erweitert – allen voran ein Ausflug zur Flüchtlingskrise.
Gleichzeitig ist die kleine Weltreise deutlich entspannter, als es die fatale Nacht vor einigen Jahren war. Auch wenn die beiden Jugendlichen zwischendurch immer mal wieder in Schwierigkeiten geraten, seien es selbst verursachte oder solche, die einfach Pech sind: So richtig brenzlig wird das nie. Roads, das auf dem Tribeca Film Festival 2019 Weltpremiere hatte, will schon ein Abenteuer für die zwei Protagonisten sein, wirkt aber eher wie ein verlängerter Ausflug. Ein Nervenkitzel, der aus dem Unbekannten und Verbotenen entsteht, weniger weil damit Gefahren einhergehen.
Zu viel auf einmal
Das erinnert etwas an das letztjährige 303. Auch damals begaben sich zwei zufällig aufeinandergestoßene junge Menschen auf eine gemeinsame Fahrt an Bord eines Campers. Auch damals wurde der Roadtrip dazu genutzt, ganz allgemeine Überlegungen zum Zwischenmenschlichen oder der Gesellschaft anzustellen. Was ja auch naheliegend ist: Wer Wochen miteinander auf engem Raum verbringt, der kann nicht nur über das Wetter reden. Leider gilt bei beiden Filmen jedoch auch, dass diese Mischung nicht immer aufgeht.
So nachvollziehbar es ist, das Alltägliche mit dem Außergewöhnlichen verbinden zu wollen, so schlecht funktioniert das in der Praxis. Schipper und sein Co-Autor Oliver Ziegenbalg (25 km/h, Mein Blind Date mit dem Leben) gelingt es nicht, die Übergänge natürlich zu gestalten. Wenn sich in Roads immer wieder ernste Themen dazwischenschieben, dann nicht weil sich das aus der Geschichte ergeben würde. Persönliche Abgründe und gesellschaftliche Herausforderungen zu kombinieren, das war am Ende dann doch zu ambitioniert. Von dem seltsamen Auftritt von Moritz Bleibtreu, der eher in einer Komödie Platz hätte, ganz zu schweigen.
Das ist auch deshalb schade, weil die beiden Jungdarsteller wunderbar miteinander harmonieren. Hier kommt es zwar nicht à la 303 zu einer Romanze, braucht es aber auch nicht. Die Art und Weise wie, wie Whitehad (Black Mirror: Bandersnatch) und Bak miteinander spielen, sich neugierig umkreisen, sich aufziehen, nur um dann in dem anderen eine Art Zuhause zu finden, das geht schon sehr zu Herzen. Die großen Ambitionen hätte es da gar nicht gebraucht, auch wenn sie natürlich löblich sind. Aber die Geschichte einer unerwarteten Freundschaft ist in diesen intimen, unspektakulären Momenten so schön, dass man glauben will, glauben muss, dass am Ende doch alles gut wird. Dass es für alle Menschen einen Platz in dieser Welt gibt, woher sie auch kommen mögen.
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