Ist das nun großes Glück oder großes Pech? Als der Junge verunglückt und mit dem Fallschirm abspringt, landet er in dem einzigen Baum, der sich in der Wüste finden lässt. Aber er findet auch noch etwas ganz anderes: einen Riesen. Der ist schwarz, überaus seltsam, verleibt sich gerne die Sachen ein, die er findet. Oder auch die Wesen, die er findet. Also heißt es nur schnell weg, weg von hier, zurück nach Hause. Ein Motorrad liegt schon bereit, zurückgelassen von … wem eigentlich? Das bleibt ebenso ein Rätsel wie die Welt oder die Richtung oder die Tiere, die hier leben.
Dreieinhalb Jahre hat Gints Zilbalodis an seinem ersten Spielfilm gearbeitet, nachdem er zuvor schon mehrere Kurzfilme gedreht hat. Das ist nicht wenig. Vermutlich wäre es auch schneller gegangen, wenn der Lette sich von anderen hätte helfen lassen. Doch das wollte er offensichtlich nicht, sein Away – Vom Finden des Glücks ist komplett in Eigenarbeit entstanden. Dass Debütanten gleichzeitig Regie führen und das Drehbuch schreiben, das ist keine Seltenheit. Wenn aber auch Animation und Musik Teil dieses Solo-Werks sind, dann ist das schon etwas ungewöhnlicher.
Ein Bild sagt mehr als keine Worte
Aber gewöhnlich ist an dem Film, der beim Annecy Animationsfestival 2019 Weltpremiere feierte, ohnehin nur wenig. Zilbalodis lässt völlig offen, wovon sein Away eigentlich handeln soll. Erklärende Worte gibt es hier nicht. Genauer gibt es nicht einmal nicht-erklärende Worte: Das rund 75-minütige Abenteuer kommt völlig ohne Dialoge aus. Was auch naheliegend ist, schließlich ist unser namenlose Held der einzige Mensch weit und breit. Vereinzelt sind zwar Tiere zu sehen, darunter ein kleines Vöglein, das zu einem treuen Begleiter wird. Aber für Gespräche bieten die sich ebenso wenig an wie der Riese, der durch die Gegend stapft.
Außerdem hat unser Protagonist keinen Mund. Zumindest sieht man ihn relativ selten, sein Gesicht verschwimmt die meiste Zeit zu einer farbigen Fläche, aus der lediglich die Augen noch hervorstechen. Dieser visuelle Minimalismus – auch bei der Umgebung wird oft auf Details verzichtet – ist anfangs etwas irritierend. Aber zum einen ist er bei einem solchen Low-Budget-Werk zu entschuldigen. Zum anderen passt es auch zu einem Film, der sich zwar immer der Realität annähert, jedoch nie ganz dort ankommt, selbst wenn wir unterwegs beachtliche Strecken zurücklegen.
Viele Welten ohne Sinn
Die sind auch schön abwechslungsreich: Aus der anfänglichen Wüste wird eine Höhle, auch grüne Natur, dunkle Wälder und Eislandschaften durchqueren wir auf der Suche nach dem Weg zurück. Unterteilt werden diese Etappen durch Kapitelüberschriften. Ein Fortschritt im eigentlichen Sinn sehen wir in Away hingegen nicht. Man könnte die Abschnitte auch anders zusammenbauen, ohne dass es jemand im Publikum auffallen dürfte. Wenn überhaupt, dann folgt das hier einer Traumlogik. Möglich ist alles, Orte und Zeiten verschwimmen, unmögliche Kreaturen existieren gemeinsam, oder existieren auch nicht. Wer kann das schon so genau sagen?
Für die Anhänger klassischer Abenteuer ist das dann auch weniger geeignet. Zwar ist der Held ständig in Bewegung, muss die eine oder andere brenzlige Situation überstehen. Aber die Spannung besteht weniger darin, ob er dem seltsamen Riesen entkommt, der in unregelmäßigen Abständen auftaucht. Es ist die Neugierde, welche Orte wir sonst noch alle sehen werden, die uns antreibt. Der Film ist so etwas wie die Mischung von surrealen Animationsfilmen wie Gwen et le livre de sable oder Der König und der Vogel, gekreuzt mit der melancholischen Reise von Kino’s Journey und den Videospielen Ico und Shadow of the Colossus – auch weil der entrückte visuelle Stil daran erinnert. Am Ende dieser eigenartigen Reise mögen wir nicht wirklich schlauer geworden sein. Dafür haben wir aber eine Reihe sonderbarer Erfahrungen gemacht, die einen hoffen lassen, dass Zilbalodis seinen Weg weiter fortsetzt – auch wenn es manchmal länger dauert.
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