Wir schreiben den 26. April 1986. In dem Kernkraftwerk von Chernobyl, nahe der ukrainischen Stadt Prypjat, kommt es zu einer Nuklearkatastrophe. Schnell wird daraufhin eine Regierungskommission einberufen, die sich mit dem Ereignis auseinander setzen soll. Der Leiter dieser Unfallkommission, Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård), und der Physiker Waleri Legassow (Jared Harris) versuchen tagaus, tagein Herr der Lage zu werden. Dabei wissen nicht einmal sie so genau, was da passiert ist. Zeitgleich tut die Regierung alles dafür, dass die Ausmaße der Katastrophe nicht nach außen dringt.
Chernobyl, die neue Miniserie von HBO, ist zurzeit in aller Munde. Doch reichen wirklich fünf Folgen à eine Stunde aus, um der Geschichte gerecht zu werden? Definitiv meinen die meisten Kritikerstimmen. Darüber hinaus sprechen die Ratings von 96% auf Rotten Tomatoes und die Durchschnittsbewertung von 9,6/10 auf imdb für sich. Solch hohe Werte hat man lange nicht gesehen. Beim Blick auf die Macher stellt man sich dann aber doch die Frage, wie dies einem Drehbuchautor für Filmkomödien (Craig Mazin) und einem schwedischen Musiker (Johan Renck) gelungen ist. Oder auch anders gefragt: Was ist eigentlich das Besondere an Chernobyl?
Abstrakte Radioaktivität
Zunächst einmal lässt einen die Serie parallel zu den Figuren im Unklaren, was vorgefallen ist. Statt Worte kommen dafür Bilder zum Einsatz: Erschrockene Menschen mit fassungslosen Augen vermitteln ein unwohles Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert sein muss. Wie schrecklich, dies wird aber nie wirklich beim Namen genannt. Und wird bei der Einschätzung der Bedrohung auf Einheiten wie Becquerel, Sievert und Röntgen zurückgegriffen, so erscheint dies meist zu abstrakt. Diese schwer greifbare Vorstellung zu dem Grad der Bedrohung gehört zweifelsohne zu den ausschlaggebenden Faktoren, die Chernobyl so fantastisch macht.
Das unsichtbare Schrecken
Für uns heutzutage selbstverständlich, für die Menschen von damals allerdings nicht so richtig nachvollziehbar, zeigt uns Chernobyl was radioaktive Strahlung beim Menschen anrichten kann. Durch verstörende Bilder von beispielsweise im Sterben liegenden Menschen wird sicherlich nicht zum ersten Mal gezeigt, dass Atomkraft bis heute ein sehr ernstes Thema darstellt. Neben der Integrierung politischer Perspektiven und der (meist) wahrheitsgetreuen Inszenierung begreift sich Rencks und Mazins Werk darüber hinaus aber auch als künstlerisches Werk, nicht zuletzt durch die Darstellung der radioaktiven Strahlung als unsichtbare Bedrohung.
Chernobyl erinnert vor diesem Hintergrund an den Meister des russischen Kinos Andrei Arsenjewitsch Tarkowski, der nach dem Reaktorunglück nicht sehr viel später mit Stalker einen Film erschuf, der bis heute noch großes Ansehen genießt. Da in beiden Werken eine Natur, in der alles Leben ausradiert wurde, in einer wunderschönen Bildsprache eingefangen wird, kann man in gewisser Weise ein paar Parallelen entdecken. Das Werk von Renck und Mazin zeigt darüber hinaus aber auch eine generell tolle Ästhetik, die fantastische Naturaufnahmen, herausragende Spezialeffekte und atmosphärisch hochaufgeladene Bilder umfasst. In manchen Szenen erweckt es daher schon fast den Eindruck, dass die radioaktive Strahlung direkt aus dem Bildschirm strahlt.
Ein Plädoyer gegen Atomkraft
Sicherlich kann man sich darüber streiten, was die Intention hinter dieser Produktion war. Fest steht jedoch, dass einmal mehr gezeigt wird, dass Atomkraft gelinde ausgedrückt ein Spiel mit dem Feuer ist. Vor dem Hintergrund ist es im Falle Deutschland erfreulich zu hören, dass alle restlichen Atomkraftwerke bis 2022 abgeschaltet werden sollen. Warum dies generell ratsam ist, zeigt die kürzlich gestartete Dokumentation Ein strahlendes Land – Mit dem Geigerzähler durch Deutschland.
Alles in Allem ist die Euphorie zur neuen HBO-Produktion also mehr als gerecht. Die Bilder stimmen, die Story ist hervorragend inszeniert, der hohe Detailgrad überzeugt vollends und der Cast macht einen tollen Job. Was will man also noch mehr? Dass aus Gründen der Dramaturgie an manchen Punkten ein wenig übertrieben wird und einige Sachen umgedichtet wurden, stimmt, sollte aber kein Grund für eine negative Kritik sein. Die Serie begreift sich schließlich als historisches Drama und nicht als Dokumentation.
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