Selbst wenn wir uns von unserer Familie entfernen – geografisch, emotional oder gar beides – ist es schon erstaunlich, wie viele von uns ihren Weg wieder in den Schoß der Familie zurückfinden. Ein Konflikt, der aufgearbeitet werden muss, kann so ein Grund sein, der zu einer solchen Rückkehr zwingt, zumindest war dies teilweise der Beweggrund des jungen Filmemachers José Pablo Estrada Torrescano wieder in seine Heimat Mexiko zurückzukehren, um einen Film über seine fast 100 Jahre alte Großmutter Maria del Carmen Torrescano, liebevoll Mamacita genannt, zu machen. Andererseits hatte sie ihm vor seiner Abreise nach Europa, wo er Film studieren wollte, das Versprechen abgerungen, irgendwann einen Film über sie zu drehen.
Dieses Versprechen und der damit verbundene Drang dieser Mamacita zu verstehen, sind dann auch der Ausgangspunkt für Torrescanos ersten Langfilm, der über einen Zeitraum von sieben Jahren entstand. Herausgekommen ist ein Porträt einer Dame, die sich in der Rolle der alles beherrschenden Matriarchin sichtlich wohlfühlt, die zu großen, zärtlichen Gesten fähig ist, aber ihr Umfeld auch in den Wahnsinn treiben kann. Neben der Geschichte seiner Großmutter, ihrer Lebensphilosophie sowie dem Aufstieg ihres Beauty-Imperiums gelingen dem Regisseur Einblicke in die Familiengeschichte, die auch seine Beziehung zu Mamacita neu definieren.
Über-Mutter
Wie eine Diva thront Mamacita über ihrem Imperium, ihrem Besitz, der sich hermetisch gegenüber der Außenwelt abriegelt. Gleich dem alternden Stummfilmstar Norma Desmond, gespielt von Gloria Swanson in Billy Wilders Meisterstück Sunset Boulevard, begibt sich der Zuschauer, zusammen mit dem Regisseur, in eine Art Parallelwelt, in dessen Zentrum nur für Mamacita Platz ist. So ist es nur konsequent, wenn Mamacita ihren Enkel sogleich an ihre Idealvorstellung anpassen will, ihm eine neue Frisur sowie neue Kleidung verordnet. Die Fremdheit, wie auch die omnipräsente Kälte, lässt sich nicht abschütteln, alles wirkt fremd, was sich im Blick Torrescanos, als er durch den Garten des Hauses schreitet, zeigt.
Als cleverer Schachzug Torrescanos erweist sich die Sichtung zahlreicher Werbevideos, die Mamacitas Beauty-Kliniken anpreisen. Ohne viel vorwegnehmen zu wollen, deutet der Film hier die Definition jenes Bildes an, das sich Mamacita geschaffen hat. Ein Bild der starken Frau, die sich und ihrem Körper „Respekt erweisen muss“.
Doku-Fiktion
Spätestens in der zweiten Hälfte seines Films überschreitet Torrescano vollends die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion in einer Konfrontation Mamacitas mit der Vergangenheit. Realität und Fantasie, die Erzählungen rund um die eigene Person verwischen sich zu einem ambivalenten Film, der zwischen surreal und real pendelt.
Dennoch verliert Mamacita nie den Boden unter den Füßen. Bei all der Kauzigkeit verleiht die menschliche Nähe von Großmutter und Enkel zum Nachdenken und zum Mitfühlen. Was für die einen mangelnde Distanz sein kann, ist andererseits eine menschliche Regung, der Drang nach Liebe und Verständnis, den man nun endlich stillen will.
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