Ein neuer Sommer, ein neues Grauen. Wo andere sich vielleicht darüber freuen würden, mit der Familie ins Ferienhaus am Meer zu fahren, da wünscht sich der 14-jährige Bobby (Blake Cooper), alles schon hinter sich zu haben. Dieses Jahr ist es sogar noch ein bisschen schlimmer als sonst: Seine Eltern streiten sich unentwegt, außerdem hat Rowdie Willie (Beau Knapp) in dem Sommergast ein dankbares Mobbing-Opfer gefunden. Aber noch etwas anderes ist neu, er darf beim exzentrischen Dr. Kahn (Donald Sutherland) den Rasen mähen. Das wird zwar nicht überragend bezahlt, der ältere Herr ist zudem äußerst pingelig. Dafür hat er aber auch die eine oder andere Lebensweisheit zu teilen.
Es ist schon ein schweres Erbe, das Jim Loach da antreten muss. Als Sohn des legendären Regisseurs Ken Loach (Ich, Daniel Blake) sind natürlich alle Blicke auf ihn gerichtet, Vergleiche mit dem Arthouse-Altmeister sind praktisch unvermeidbar, wenn man selbst Filme dreht. Gut möglich, dass der Brite deshalb eher im TV-Bereich unterwegs ist: Measure of a Man – Ein fetter Sommer ist erst der zweite Kinofilm im immerhin zwei Dutzend Titeln umfassenden Portfolio des 50-Jährigen. Auch inhaltlich liegt der Vergleich nahe. Vater und Sohn sind jeweils im Tragikomödien-Umfeld zu Hause und haben ein großes Herz für Verlierer.
Probleme, wie sie die Welt kennt
Eine bloße Kopie vom Papa ist Jim jedoch nicht. Wo Ersterer gerne die Gesellschaft als solche porträtiert und sich Protagonisten heraussucht, die durch alle Netze fallen, da ist Bobby deutlich universeller. So universell, dass der zugrundeliegende Roman von Robert Lipsyte bereits über 40 Jahre auf dem Buckel hat. Das merkt man dem Film von der leicht nostalgischen Stimmung bis zu der Ausstattung an. Auf Sozialen Medien herumturnen? Das gibt es hier nicht, Langeweile wird hier durch körperliche Aktivitäten vertrieben. Die Leute reden auch noch tatsächlich miteinander, selbst wenn sie darin nicht besonders geschickt sind.
Bobby beispielsweise wird regelmäßig von Dr. Kahn angehalten, den Mund aufzumachen, sich besser zu verkaufen oder auch seinen Standpunkt zu vertreten. Geschenkt wird einem schließlich nichts im Leben. Es ist also klassisches Coming-of-Age-Material, das Loach hier verarbeitet hat. Ein junger Mensch, noch ziemlich unsicher, sucht seinen Platz in der Welt. Oder will weg von dem Platz, den andere ihm zuweisen wollen. Er ist der dicke Kerl, den alle verspotten können. So wie alle zum Abschuss freigegeben sind, die anders sind oder zu schwach, um sich zur Wehr zu setzen.
Viele Möglichkeiten, wenig Ahnung
Aber wie soll das überhaupt aussehen, dieses Zurwehrsetzen? In einer der schönsten Szenen von Measure of a Man fragt Bobby genau das. Er will nicht länger das Opfer sein, das er all die Jahre war. Das ist klar. Unklar ist jedoch: Was genau lässt sich dagegen tun? Denn das Leben hat oft nicht die definitiven Antworten parat, die wir uns erhoffen. Was im einen Moment falsch sein kann, mag im nächsten wieder passen. Die Situationen der Menschen sind so individuell wie sie selbst. Das macht das alles ganz schwierig, aber eben auch wieder schön, der Film setzt sich dafür ein, jeden so zu akzeptieren, wie er nun mal ist.
Das ist dann nicht aufregend, soll es auch gar nicht sein. Measure of a Man lebt von dieser entspannten Sommeratmosphäre und dem Gefühl, irgendwo zwischen zwei Welten zu sein. Über weite Strecken spart sich Loach dann auch die Dramatisierung, gibt sich eher einer impressionistischen Darstellung hin. Lediglich an einer Stelle wird die beschaulich-entspannte Stimmung sehr heftig auseinandergerissen. Ansonsten dominiert die Nicht-Dominanz, die Geschichte von Kahn wird beispielsweise eher beiläufig erzählt. Der ist wunderbar von Altstar Donald Sutherland (Das Leuchten der Erinnerung) verkörpert. Aber auch Nachwuchsschauspieler Blake Cooper macht seine Sache sehr gut in seiner Rolle als heranwachsender Mensch, der lernen muss, jemand zu sein und sich selbst zu definieren, mehr zu sein als der Junge mit den Kilos zu viel.
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