Deutsche Filme sind doch alle gleich, heißt es immer wieder mal verächtlich. Dass das nicht stimmen muss, beweist Das melancholische Mädchen, das nach diversen Festivalauftritten am 27. Juni 2019 regulär ins Kino kommt. In ihrem Spielfilmdebüt erzählt die zuvor als Schriftstellerin bekannte Susanne Heinrich von einer namenlosen jungen Autorin, die auf der Suche nach einem Schlafplatz durch die Großstadt streift und in insgesamt 15 Begegnungen viel über die Welt und die Gesellschaft sinniert. Wie die Filmemacherin auf den Stoff kam und was es bedeutet, Romane gegen Drehbücher zu tauschen, hat sie uns in einem Interview verraten.
Dein erster Roman ist bereits 2005 erschienen. Warum hast du dich entschieden, jetzt auch Filme zu drehen?
Als ich eine zähe Schreibkrise hatte, erinnerte ich mich daran, wie ich einmal mit einem Regisseur einen meiner Romane in ein Drehbuch umgearbeitet habe. Das war eine spannende Erfahrung, denn es fühlte sich so an, als würde ich das Buch in seine eigentliche Form rückübersetzen. Als ich nicht mehr schreiben konnte, dachte ich also, ich folge dieser Spur. Etwas anderes als ein Wechsel des Mediums kam für mich sowieso nicht infrage. Ich habe nichts anderes gelernt und kann auch nicht aufhören, Kunst zu machen – es ist einfach meine Art, mit der Welt in Kontakt zu sein. Ich dachte also, vielleicht könnte ich anfangen in Bildern zu denken und mich dann über diesen Umweg zurück zur Sprache tricksen. Durch die Arbeit am „melancholischen Mädchen“ bin ich zur Regisseurin geworden. Gerade fühlt es sich so an, als hätte das Filmemachen meine literarische Produktion abgelöst – oder eingespeist.
Wie bist du auf den Stoff für deinen Film gekommen?
Der Film geht auf mein Unbehagen in der Gesellschaft zurück. Diese große Freiheit, von der immer alle sprechen – ich empfand sie einfach nicht. Meine Entscheidungen fühlten sich willkürlich an und schienen keinen Unterschied zu machen. Ob ich mit jemandem schlief oder ein Eis kaufte: lediglich eine gradueller Unterschied. Am Ende war jede Entscheidung eine Konsumentscheidung. Die Individualisierung schien gleichzeitig von einer Normalisierung der Lebensformen begleitet zu werden: Ich sah so viel Konformismus, so viel Eingehegtes, so viel als originär gekennzeichnete reine Reproduktion platter Ideologie. Ich war tief gelangweilt, fühlte mich entfremdet und erschöpft.
Etwa zur gleichen Zeit politisierte ich mich in einem Studentenaufstand an unserer Filmakademie – und begann, Theorie zu lesen. Das hat alles verändert. Ich begann, meine Depression zu politisieren. Von mir abzusehen und den Blick auf Ähnlichkeiten und Strukturen zu richten statt einzelne psychologisierende Geschichten zu erzählen, machte Humor möglich. So ist ein eigentliches Leiden zum Stoff für eine Komödie über unsere Gesellschaft geworden.
Wie war die Erfahrung für dich? Wie unterscheidet sich das Schreiben eines Drehbuchs von dem Schreiben eines Romans?
Meine Romane habe ich versucht zu bauen, zu entwerfen. Wahrscheinlich sind die deswegen so schlecht. Meine Kurzgeschichten sind anders entstanden, viel intuitiver, traumwandlerischer, von den Logiken der Sprache geleitet, an Sätzen und Beobachtungen entlang. Das Drehbuch ist nach jahrelangem Nachdenken und Notizen-Machen dann auch in sehr kurzer Zeit entstanden. Die längste Zeit hat es gedauert, diese neue Stimme zu finden, die sich von der Innerlichkeit meiner Prosa verabschiedet.
Jedes Kapitel findet in neuer Umgebung statt und nimmt sich eines neuen Themas an. Was stand zuerst, die stilisierten Szenarien oder der Inhalt der Kapitel?
Das Drehbuch stand zuerst. Es ist aber wie gesagt nicht nach dem Prinzip „in diesem Kapitel verhandele ich das und das“ entstanden. Für die Entwicklung der Ästhetik habe ich es dann eigentlich vor allem befragt. Es steht ja eigentlich alles in der ersten Szene: Es gibt keine Story, und sie ist keine psychologische Figur, mit der man sich identifizieren kann. Da war relativ schnell klar, dass das keine naturalistische Umsetzung erlaubt. Ich musste also Mittel finden, die deutlich machen, dass es sich um Modelle handelt. Modelle von Figuren, Modelle von Räumen, Modelle davon, wie man heutzutage über dieses oder dieses Thema spricht. Dann waren wir schnell bei einer Szenografie, die ebenfalls das Typische herausarbeitet statt abzubilden, die also zum Beispiel die Männerzimmer wie Mottoräume gestaltet, nicht wie bewohnte Originalschauplätze. Analog dazu landeten wir bei einer Musik, die kommentiert statt zu untermalen, und bei einem brechtschen Schauspiel, das mit Desidentifikation und Verfremdung arbeitet statt mit Affektproduktion.
Wer ist das melancholische Mädchen? Warum hat sie keinen Namen?
Auch das melancholische Mädchen ist ein Modell. Ein Feld, auf dem Diskurse sich schneiden. Hannah Pilarczyk von Spiegel Online schlug Max Webers Begriff des „Idealtypus“ vor, oder auch den Begriff des Labels / der Marke.
Neigst du selbst zur Melancholie?
Oh ja.
Deine Figur in dem Film ist eine Autorin, die an einer Schreibblockade leidet. Wie viel von dir steckt in dieser Figur?
Viel. Aber es geht nicht um mich. Es geht um Phänomene, die größer sind als ich. Deswegen auch der Abstraktionsgrad.
Du hast bei der Preisverleihung vom Max Ophüls Preis gesagt, dass du das Kino neu erfinden willst. Wie genau willst du das erreichen?
Zuerst einmal will ich das nicht allein erreichen, und ich habe auch keinen Masterplan. Es gibt ja auch schon sehr viele Menschen überall, die permanent das Kino neu erfinden – indem sie an vergessene Traditionen anknüpfen, sich von Konventionen lösen, Filme anders zeigen und so weiter. Ich persönlich werde mich weiterhin gestaltend an der DFFB einbringen – vielleicht ja in Zukunft nicht als Studierende, sondern als Lehrende – und neben meinem filmpolitischen Engagement weiter Filme machen, die die Story als oberstes Ordnungsprinzip abwählen, ent-psychologisieren und den in Deutschland weitverbreiteten Inhaltismus mit Filmen kontern, bei denen ein Großteil der Aussage in der Ästhetik liegt.
Hat das Kino heute überhaupt noch eine Chance, in Deutschland und auch allgemein?
Das habe ich Alexander Kluge gefragt, als ich die Möglichkeit hatte, mit ihm zu sprechen. Er sagte, die „Utopie Kino“ sei so lange nicht vorbei, solange noch an vergessene Traditionen angeknüpft wird, die Filmgeschichte also lebendig bleibt. In Deutschland ist da gerade nicht so viel lebendig. Kluge würde sagen, dass gerade nur die Autobahn befahren ist, aber die kleinen, schönen Spazierwege alle brach liegen. Das hat natürlich mit den Herstellungs- und Auswertungsmechanismen zu tun, aber auch damit, wie Filmausbildung gedacht wird.
Kino muss relevant sein für die Menschen in ihren ganz konkreten Lebenssituationen, muss also Antworten geben auf ein vorhandenes Begehren. Das heißt, dass Kino sich verändern muss, weil das Begehren sich verändert. Damit meine ich nicht, dass es „dem Publikum“ geben muss, was „das Publikum“ angeblich will. Abgesehen davon, dass es „das Publikum“ nicht gibt und das ein dämlicher Kampfbegriff ist, sollte es nicht um kurzfristige Bedürfnisbefriedigung gehen. Aber die Frage könnte sein, was die konkreten Menschen vor Ort brauchen. Ich habe eine Reihe kleiner Kinos kennengelernt, die zum Beispiel stark auf das gemeinschaftliche Erlebnis setzen und den Kino als Ort für Begegnung und Diskurs verstehen.
Wenn man den Begriff des „Seriellen“ – also Netflix & Co. – gegen das Kino in Stellung bringt, könnte man schauen, wie sich das Seherlebnis im Kino (gemeinsam, zu einem bestimmten, geplanten Zeitpunkt, begrenzt, lokal, eingebettet in einen Erlebnisrahmen) zu dem auf Netflix (zu Hause, im Bett, oftmals allein, potenziell endlos) unterscheidet, und die Unterschiede stärker herausarbeiten.
Was sind deine nächsten Projekte?
Es gibt seit kurzem erste Bilder zu einem neuen Film in meinem Kopf. Darüber freue ich mich sehr, denn ich hatte nach dem Mädchen Angst, ich hätte alles gesagt und wäre jetzt leer. Ich will aber diese Bilder und Ideen noch schützen, und dafür brauche ich, metaphorisch gesprochen, Schatten. Das heißt, ich spreche noch nicht darüber. Daneben trete ich mit meiner Band „Hysterische MILFs“ auf, sitze ab und zu in Jurys oder kuratiere, mache politische Arbeit und ziehe ein Kind groß.
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