Das weisse Rentier

Das weiße Rentier

Das weiße Rentier // Deutschland-Start: 19. Oktober 2022 (MUBI)

Inhalt / Kritik

Irgendwo in der Schneewüste des Lapplands ist eine kleine Gemeinde, die vornehmlich aus Rentierhirten besteht. Nach einem Fest der Einwohner, welches als Höhepunkt ein Rentierrennen bot, verliebt sich die junge Pirita (Mirjami Kousmanen) in den Hirten Aslak (Kalervo Nissilä). Schon bald läuten die Hochzeitglocken für die beiden und sie ziehen in ihr erstes gemeinsames Heim mit dem Segen ihrer Eltern. Stand die Ehe zunächst noch unter einem guten Stern, frustriert es Pirita immer mehr, dass ihr Mann ganze Tage mit den anderen Hirten sowie den Herden weg ist. In den wenigen Stunden, in denen er daheim ist, fühlt sie sich von ihm vernachlässigt und beschließt daher, den Dorfschamanen (Arvo Lehesmaa) zu besuchen, der mit einem starken Liebestrank Abhilfe schaffen soll. Dieses Gebräu hat aber den Nebeneffekt, dass Pirita nun zu einem Gestaltwandler geworden ist, der die Rentierhirten in der Form eines schönen weißen Rentiers in eine Falle lockt und sie tötet.

„Kleines Kind des Lapplands“

Bereits in den ersten Minuten wird der Zuschauer in die eisig-verschneite Landschaft des Lapplands entführt. Die anfangs per Voiceover gesungene Passage aus der alten Volkssage, die als Vorlage für das Skript diente, hebt das Märchenhafte wie das Unheimliche dieser Region hervor. Zu perfekt möchte man meinen ist hier die „weiße“Unschuld des Landes, eine trügerische Idylle ähnlich eines Gemäldes des Malers Caspar David Friedrich. Denn neben der romantischen Natur hebt der sehnsüchtige Gesang auch Themen wie Isolation hervor, jenes paradoxe Dilemma, das sich durch den Drang nach Freiheit und Befriedigung sehnt, aber gleichzeitig von der Weite der Welt eingeschlossen zu sein scheint.

Immer wieder wiegt uns die Bildsprache Erik Blombergs in einer falschen Sicherheit. Piritas und Aslaks unschuldiges Spiel im Schnee fungiert hierbei weniger als naiv-romantische Liebelei, sondern auch als erster, stark sexuell konnotierter Akt des „Verschlingens“. Mit einem sehnsüchtigen Blick zieht Kousmanens Charakter die Kamera zu sich heran, triumphiert in diesem Akt der Verführung, der für ihre Figur im weiteren Verlauf von hoher Wichtigkeit ist.

Dominanz und Spiel

Neben den bereits aus vielen Volksmärchen bekannten Themen wie (sexuelle) Initiation ist im Falle von Das weiße Rentier insbesondere die Behandlung des Motivs der Wildheit von besonderer Bedeutung. Während das Wilde, das Unbezähmbare immer gleichzeitig das Monströse ist, wie im Beispiel des großen, bösen Wolfs aus Rotkäppchen, liegt mit dem Rentier, in welches sich Pirita verwandelt, ein Wesen vor, welches so ganz und gar nicht in dieses klassische Bild passen will. Im Kontext der Gesellschaft, die Blomberg zeigt, ist Wildheit domestiziert, was nicht zuletzt durch die zahlreichen Aufnahmen des Einfangens der Rentiere hervorgehoben wird.

An dieser Stelle lohnt sich auf eine wichtige Parallele zu dem Frauenbild dieser Gemeinschaft zu verweisen. Nach der Logik von Blombergs Skript, an dem seine Frau Mirjami Kousmanen mitschrieb, ist die Wildheit bzw. die Sphäre der Freiheit einzig und allein den Männern vorbehalten, wie auch die Befriedigung der Triebe. Die Bezeichnung „Hexe“ wird schnell geäußert, vor allem bei eben jenen, die dieser Vorstellung nicht entsprechen. Gerade in der Region, die Blomberg beschreibt, wurden alleine im 17. Jahrhundert über 113 Frauen verbrannt und weitere 30 ermordet, weil sie der Hexerei angeklagt wurden (Quelle: Alexandra Heller-Nicholas, “The Passion of the Snow Witch”).

Ähnlich zu den Figuren in Werken wie Carl Theodor Dreyers Tag der Rache oder in neueren Filmen wie Robert Eggers The Witch wird das Wilde, zu dem schließlich auch das Sexuelle zählt, unterdrückt und obliegt dem strengen Oppressionswahn der Gemeinschaft. So kann man Das weiße Rentier auch als kunstvolle Parabel auf Geschlechterbilder und den Zwang zum Konformismus sehen.

Credits

OT: „Valkoinen peura“
IT: „The White Reindeer“
Land: Finnland
Jahr: 1952
Regie: Erik Blomberg
Drehbuch: Erik Blomberg, Mirjami Kousmanen
Musik: Einar Englund
Kamera: Erik Blomberg
Besetzung: Mirjami Kousmanen, Kalervo Nissilä, Âke Lindman

Bilder

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Das weiße Rentier
fazit
Einerseits düsteres Märchen, andererseits formal sehr ansprechende Geschichte über Frauen- und Männerbilder sowie Sexualität. Schöne Bildkompositionen und Mut zur Ambiguität machen “Das weiße Rentier” zu einem Spiel mit dem Zuschauer, der dieses zu Unrecht sehr wenig beachtete Werk Erik Blombergs bestaunt und sich an dessen Interpretationsspielraum erfreuen kann. Eine mehr als lohnenswerte Entdeckung für jeden Cineasten
9
von 10