Eine verbrannte Menschenleiche wurde in Sophia Antipolis, dem gleichnamigen Technologie- und Wissenschaftspark bei Antibes, eine Art französisches Silicon Valley, gefunden. Um wen es sich handelt, ist zunächst unklar. Nur langsam kommen die Menschen den Ereignissen aus retrospektiver Sicht auf die Spur. In unterschiedlichen Erzählsträngen verfolgen wir dabei eine unter Einsamkeit leidende Witwe (Dewy Kunetz), einen Jungen im Teenageralter (Hugues Njiba-Mukuna) und weitere Figuren, welche wenig miteinander zu tun haben.
Viele Filme sind stringent, gradlinig und einfach strukturiert. Seit Anbeginn des Kinos spielen Regisseure aber auch gern mit diesen Konventionen: Filme, die rückwärts erzählt werden, die einzigartig im Schnitt oder in der Kamera sind sowie ästhetisch oder storytechnisch generell ein wenig überfordern. Ein Beispiel hierfür ist Virgil Verniers (Mercuriales) neustes Werk Sophia Antipolis, das alles andere als gradlinig ist und dessen Vielschichtigkeit erst nach und nach deutlich wird.
Dies macht sich besonders bei der episodenhaften Erzählung bemerkbar, da die Frage zu der Entschlüsselung des Mordes ab einem gewissen Punkt gar nicht mehr so relevant ist. Stattdessen steht die Frage nach dem Sinn und der generellen Immanenz von Kriminalität und Gewalt in der Welt im Raum. Insgesamt ist die eigentliche Story gar nicht so ausschlaggebend für den Film. Vieles passiert hier zwischen den Zeilen.
Die Schattenseiten der heutigen Welt
So drängt sich bald der Eindruck auf, Vernier wollte mit seinem neuesten Werk auf die dystopische Tendenz der Welt aufmerksam machen. Dies macht sich anhand vereinzelter Aspekte bemerkbar, die sich allerdings nur bruchstückhaft im Hintergrund abspielen. Umweltzerstörung, Kriege, Selbstjustiz oder der anhaltende Konflikt zwischen Institutionalismus und Individualismus oder auch Arm gegen Reich sind nur einige der Themen, die immer mal durchscheinen.
Die Wahl des gleichnamigen Technologieparks als Setting könnte in der Hinsicht nicht besser sein, da der Konflikt zwischen beispielsweise Securitypersonal und einem verliebten Teenagerpärchen besonders gut zum Tragen kommt. Auf der anderen Seite will Vermier aber auch auf den Menschen und das Überleben an sich hinaus. Durch das Porträtieren von Menschen einer Sekte und dem gegenübergestellt einer Art Bürgerwehr, die ohne das Gesetz im Rücken agiert, thematisiert der Film auch die Bildung von Teilgesellschaften. Diese episodenhaften Erzählstränge haben zwar nicht wirklich etwas mit dem Mord zu tun, bringen den Film aber auf eine andere Weise voran.
Kein Platz für Menschlichkeit
Eines zeigt Vermiers Werk darüber hinaus ganz eindeutig: im (symbolischen) Silicon Valley gibt es keinen Platz für Menschlichkeit. Statt menschlicher Anteilnahme fallen stattdessen Sprüche wie „Bitte gehen Sie, das ist Privatgelände“, die anschaulich die Schattenseiten unserer aktuellen Gesellschaft verdeutlichen. Das Schöne ist aber, dass man dies keineswegs die fast 100 Minuten vor die Nase vorgehalten bekommt. Stattdessen passiert recht viel auf subtiler Ebene, wodurch sich der Film bei dem einen oder anderen vielleicht erst nach ein paar Tagen richtig entfalten kann.
Darüber hinaus macht die ästhetische Komponente des Films Vermiers Werk so sehenswert. Die Plansequenz einer aufgehenden Sonne, unterlegt mit einem Monolog über die allgegenwärtige Destruktivität der Welt, ist nur ein Beispiel dafür. Damit reiht sich Sophia Antipolis ohne Zweifel in die Art Film ein, die immer seltener wird: „impact movies“, also solche Filme, die auch nach Tagen oder Wochen noch im Kopf bleiben und sich erst im Nachhinein durch ihre besondere Nachwirkung von anderen Werken abheben.
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